Gottes Werk und Teufels Beitrag
Stapeln gebracht. Candy beanstandete die Illustrationen im American Journal of Obstetrics and Gynecology.
»Ich brauche ein wenig geistige Anregung hier«, pflegte Homer Wells zu sagen, wann immer Candy sich über die krude Anschaulichkeit dieser Lektüre beschwerte.
»Ich finde nur, Angel braucht es nicht zu sehen«, sagte Candy.
»Er weiß, daß ich mich in dem Bereich ganz gut auskenne«, sagte Homer.
»Mich stört nicht, was er weiß, mich stören die Bilder«, sagte Candy.
»Es gibt keinen Grund, das Thema vor dem Kind zu verschleiern«, sagte Wally, der Homers Partei ergriff.
»Es gibt auch keinen Grund, das Thema grotesk darzustellen«, wandte Candy ein.
»Ich finde es weder schleierhaft noch grotesk«, sagte Angel in diesem Sommer, als er fünfzehn war. »Es ist einfach interessant.«
»Du gehst noch nicht einmal mit Mädchen«, sagte Candy lachend und wollte die Gelegenheit nutzen, um ihn zu küssen. Doch als sie sich über ihn beugte, sah sie auf dem Schoß ihres Sohnes eine Illustration, die in einem Artikel über vaginale Chirurgie abgebildet war. Die Illustration zeigte die Schnittlinien für die Entfernung der Vulva und eines Primärtumors bei einer erweiterten Radikal-Vulvektomie.
»Homer!« schrie Candy. Homer war oben in seinem sehr kargen Schlafzimmer. Sein Leben war so karg, daß er nur zwei Dinge an seine Wände geheftet hatte – und eines davon war im Badezimmer. Neben seinem Bett hatte er ein Bild von Wally in Fliegermontur und Schaffelljacke. Wally posierte mit der Besatzung von Die Chance klopft an; der Schatten des dunklen Flugzeugflügels machte das Gesicht des Funkers ganz schwarz, während das Gesicht des Bordkommandanten (der schließlich an einer Dickdarmkomplikation gestorben war) von der grellen indischen Sonne ganz weiß war; nur Wally und der Kopilot waren richtig belichtet, auch wenn Homer bessere Bilder von ihnen beiden gesehen hatte. Der Kopilot schickte Wally zu Weihnachten immer ein Bild von sich und seiner wachsenden Familie; er hatte fünf oder sechs Kinder und eine mollige Frau; aber jedes Jahr wirkte der Kopilot dünner (die Amöben, die er sich in Birma geholt hatte, war er nie wieder richtig losgeworden).
Und im Badezimmer hatte Homer den leeren Fragebogen angeheftet, das Extraexemplar, das er nie an den Treuhänderausschuß von St. Cloud’s zurückgesandt hatte. Der Wasserdampf aus der Dusche hatte das Papier des Fragebogens rauh wie Lampenschirmpergament gemacht. An Leserlichkeit oder Idiotie hatte keine der Fragen irgend etwas eingebüßt.
Das Ehebett war höher als üblich (weil Senior Worthington zu seiner Zeit immer gern im Liegen aus dem Fenster geschaut hatte); das gefiel auch Homer an dem Bett. Er hatte von dort oben den Swimmingpool und das Dach des Ciderhauses im Blickfeld. Er liebte es, stundenlang auf diesem Bett zu liegen und nur aus dem Fenster zu sehen. »Homer!« rief Candy nach ihm. »Komm bitte und sieh dir an, was dein Sohn liest.«
In der Art redeten sie alle miteinander. Candy sagte »dein Sohn« zu Homer, und auch Wally drückte sich so aus, und Angel sagte immer »Daddy« oder »Pop«, wenn er mit seinem Vater sprach. Die ganzen fünfzehn Jahre lang hatte dieses Arrangement bestanden – Homer und Angel oben, Wally und Candy unten im früheren Eßzimmer. Die vier nahmen ihre Mahlzeiten zusammen ein.
An manchen Abenden – besonders im Winter, wenn die kahlen Bäume mehr Einblick in die erleuchteten Eßzimmer und Küchen der Nachbarhäuser gewährten – unternahm Homer gern vor dem Essen eine kurze Autofahrt. Er fragte sich, angesichts der Familien, die da zusammen ihr Abendbrot aßen, wie wohl ihr Leben sein mochte? St. Cloud’s war berechenbarer gewesen. Was wußte man schon wirklich über all diese Familien, die sich miteinander hinsetzten, um zu Abend zu essen?
»Wir sind eine Familie. Ist das nicht die Hauptsache?« fragte Candy Homer Wells, wann immer er seine Autofahrten vor dem Abendbrot zu lange auszudehnen schien.
»Angel hat eine Familie, eine wirklich wunderbare Familie. Ja, das ist die Hauptsache«, pflichtete Homer bei.
Und wenn Wally ihr erzählte, daß er so glücklich war, daß er sich für den glücklichsten Mann der Welt hielt, daß jeder seine Beine hergeben würde, um so glücklich zu sein, wie Wally es war – dann erlebte Candy wieder eine der Nächte, in denen sie nicht schlafen konnte, in denen sie an Homer Wells dachte, der ebenfalls hellwach war. Manchmal trafen sie sich nachts in der Küche, tranken ein
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