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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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geduldig an. Ihre Engelsgeduld konnte Larch rasend machen.
    »Nein, nicht in einer besseren Welt!« schrie er. »In dieser – in dieser Welt. Ich nehme diese Welt als gegeben. Reden Sie mit mir über diese Welt!« Aber das alles machte ihn so müde und weckte nur seine Sehnsucht nach ein bißchen Äther. Je mehr er mit Schwester Caroline Schritt zu halten suchte, desto mehr brauchte er den Äther; und je stärker er das Bedürfnis danach empfand, desto mehr gab ihr dies recht.
    »Oh, ich kann nicht immer recht haben«, sagte Larch müde.
    »Ja, ich weiß«, sagte Schwester Caroline mitfühlend. »Gerade weil auch ein guter Mensch nicht immer recht haben kann, brauchen wir eine Gesellschaft, brauchen wir gewisse Regeln – nennen Sie es Prioritäten, falls Ihnen das lieber ist«, sagte sie.
    »Nennen Sie es doch, wie Sie wollen«, sagte Wilbur Larch verdrießlich. »Ich habe keine Zeit für Philosophie oder für den Staat oder für die Religion. Ich habe nicht genug Zeit«, sagte Wilbur Larch.
    Immer mußte er insgeheim an ein neugeborenes Baby denken, das schrie; auch wenn es so still war im Waisenhaus wie in den wenigen übriggebliebenen, verlassenen Gebäuden von St. Cloud’s – auch wenn es geisterhaft still war –, hörte Wilbur Larch Babys schreien. Und sie schrien nicht, um geboren zu werden, das wußte er; sie schrien, weil sie geboren waren. Diesen Sommer schrieb Mr. Rose, daß er »und die Tochter« womöglich vor der Pflückermannschaft eintreffen könnten; er hoffe, das Ciderhaus wäre bereit.
    »Es ist eine Weile her, seit wir die Tochter gesehen haben«, bemerkte Wally im Büro des Apfelmarktes. Everett Taft war draußen und ölte Wallys Rollstuhl für ihn, und darum saß Wally auf der Schreibtischkante. Seine schlaffen Beine baumelten herab, seine unbenutzten Füße steckten in einem blankgeputzten Paar Schuhe – sie waren mehr als fünfzehn Jahre alt.
    Candy spielte mit der Rechenmaschine. »Ich glaube, die Tochter ist etwa in Angels Alter«, sagte sie.
    »Richtig«, sagte Homer Wells, und Wally versetzte Homer einen sehr gut geschwungenen Haken – die einzige Sorte Faustschlag, die er im Sitzen wirklich schwingen konnte. Weil Homer am Schreibtisch gelehnt und Wally aufrecht gesessen hatte, traf der Faustschlag Homer völlig überraschend, und sehr hart, gegen die Wange. Der Faustschlag überraschte Candy so sehr, daß sie die Rechenmaschine über die Schreibtischkante stieß. Die Maschine krachte auf den Boden des Büros; als Homer zu Boden ging, landete er nicht ganz so krachend und leblos wie die Rechenmaschine, aber er landete hart. Er legte seine Hand an die Wange, wo er bald eine Schwellung und ein blaues Auge haben würde.
    »Wally!« sagte Candy.
    »Ich habe es so satt!« brüllte Wally. »Es wird Zeit, daß du ein neues Wort lernst, Homer«, sagte Wally.
    »Gott, Wally«, sagte Candy.
    »Ich bin in Ordnung«, sagte Homer, doch er blieb auf dem Büroboden sitzen.
    »Tut mir leid«, sagte Wally. »Es geht mir einfach auf die Nerven – daß du die ganze Zeit ›Richtig‹ sagst.« Und obwohl er diesen Fehler seit Jahren nicht mehr gemacht hatte, stieß er sich mit den Armen vom Schreibtisch ab – wahrscheinlich hatte er nur die Idee gehabt, aufzuspringen und Homer auf die Beine zu helfen; er hatte vergessen, daß er nicht gehen konnte. Hätte Candy ihm nicht unter die Arme gegriffen, ihn – Brust an Brust – umarmt, Wally wäre gestürzt. Homer stand auf und half Candy, Wally wieder auf den Schreibtisch zu setzen.
    »Tut mir leid, Kumpel«, sagte Wally. Er legte seinen Kopf an Homers Schulter.
    Homer sagte nicht »Richtig«. Candy ging ein Stück Eis in einem Handtuch für Homers Gesicht holen, und Homer sagte: »Ist in Ordnung, Wally. Alles ist in Ordnung.« Wally sackte ein wenig nach vorne, und Homer beugte sich zu ihm hin; ihre Stirnen berührten sich. In dieser Haltung blieben sie, bis Candy mit dem Eis wiederkam.
    Seit fünfzehn Jahren glaubten Candy und Homer meistens, daß Wally alles wußte, daß er alles akzeptierte, daß er aber traurig war, weil sie ihm nichts sagten. Gleichzeitig dachten sie sich, daß es eine Erleichterung für Wally sei – wenn er nicht eingestehen mußte, daß er alles wußte. In welche neue, unangenehme Lage würden sie ihn bringen, wenn sie es ihm jetzt sagten? War es nicht die Hauptsache, daß Angel nichts wußte – nicht, solange Candy und Homer es ihm nicht sagten; die Hauptsache war, daß Angel es nicht von jemand anderem hörte. Was immer Wally

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