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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Fußpumpe die Luft abgesaugt werden konnte; es hatte die Kraft, eine Abtreibung einzuleiten, aber es hatte auch die Kraft, Blut durch die Poren der Haut zu ziehen. Es konnte dem zarten Gewebe viel Schaden zufügen. Und es gab die galvanische Batterie nach McIntosh – wie das kleine Schild an der Tür von »Off Harrison« besagte: wir behandeln menstruelle suppression elektrisch! Lange Kabel waren an die Batterie angeschlossen; an den Kabeln waren intrauterine Sonden befestigt, mit isolierten, gummigeschützten Griffen: damit der Abtreiber den Schock nicht in seinen Händen spüren mußte.
    Als Mrs. Eames’ Tochter starb – noch bevor Dr. Larch sie operieren konnte, und ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln (außer jenem »Scheißen Sie, oder runter vom Pott!«, das an ihrer Schulter festgesteckt war) –, hatte sie fast 42° Fieber. Der Anstaltsleiter fühlte sich veranlaßt, Larch zu fragen, ob er die Frau gekannt habe. Der Zettel enthielte doch zweifellos eine vertrauliche Nachricht.
    »Sie war wütend auf mich, weil ich ihr eine Abtreibung verweigert habe«, antwortete Wilbur Larch.
    »Sehr gut für Sie«, sagte der Assistent.
    Aber Larch sah nicht ein, wieso dies für irgend jemanden gut sein sollte. Hier lag eine weit fortgeschrittene Entzündung der Bindegewebe und inneren Organe der Bauchhöhle vor, der Uterus war zweimal perforiert und der tote Fötus entsprechend der Voraussage von Mrs. Eames’ Tochter nicht quick.
    Am anderen Morgen stattete Dr. Larch »abseits von Harrison« einen Besuch ab. Er mußte mit eigenen Augen sehen, was dort passierte; er wollte wissen, wohin Frauen gingen, wenn Ärzte sie abwiesen. Auf seiner Seele lastete der letzte Zigarrenhauch von Mrs. Eames’ Tochter, den sie ihm ins Gesicht geblasen hatte, als er sich kurz vor dem Ende über sie beugte – und erinnerte ihn natürlich an die Nacht, als er ihre qualmende Zigarre gebraucht hatte, um seine Kleider zu finden. Wenn Hochmut eine Sünde war, dachte Dr. Larch, dann war moralischer Hochmut die größte Sünde. Er hatte mit einer Mutter geschlafen und sich im Lichtschein der Zigarre ihrer Tochter angekleidet. Er selbst konnte problemlos für den Rest seines Lebens der Sexualität entsagen, aber wie konnte er je einen anderen Menschen dafür verdammen, daß er ihr nicht entsagte, sondern weiter Sex machte? An der Tür mit dem kleinen Schild, das die elektrische Wiederherstellung der Menstruation verhieß, schmetterte ihm der Deutsche Chor entgegen. Ein schrilles, verstimmtes Klavier erklang – keine Oboen, kein Englischhorn, kein Mezzosopran –, und doch meinte Larch, die Musik erinnere an Mahlers Kindertotenlieder. Jahre später, als er zum erstenmal das jeden Schrei übertönende Geräusch des durch Three Mile Falls brausenden Wassers hörte, sollte er sich an die Abtreibergesänge erinnern, die »abseits von Harrison« wie ein rhythmisches Ostinato stampften. Er klopfte an die Tür – er hätte schreien können –, aber niemand hörte ihn. Als er die Tür aufstieß und eintrat, machte sich niemand die Mühe, ihn anzusehen; der Deutsche Chor sang weiter. Das einzige Instrument war ein Klavier, und es gab viel zuwenig Stühle für die Frauen und nur vereinzelte Notenständer; die Männer standen in zwei Gruppen zusammengedrängt, weit entfernt von den Frauen; auch Notenblätter waren nicht genügend vorhanden. Der Chordirigent stand neben dem Klavier. Ein magerer, kahlköpfiger Mann ohne Hemd, der einen schmutzigweißen Hemdkragen trug (vielleicht um den Schweiß aufzufangen) und die Augen halb geschlossen hielt wie im Gebet, während seine Arme wild in die Luft stießen – als sei die Luft, die von Zigarrenqualm und dem urinähnlichen Gestank billigen Faßbiers erfüllt war, nur schwer zu durchdringen. Der Chor folgte den wilden Armen des Mannes.
    Ein pingeliger oder kritischer Gott, dachte Wilbur Larch, würde uns alle totschlagen. Larch ging hinter dem Klavier vorbei durch die einzige offene Tür. Er betrat einen völlig leeren Raum – kein einziges Möbelstück, kein Fenster, lediglich eine geschlossene Tür. Larch öffnete sie und fand sich, wie ihm schien, im Wartezimmer – zumindest warteten hier offenbar Leute. Es gab sogar Zeitungen und frische Blumen und ein offenes Fenster; vier Menschen saßen, jeweils zu zweit, da. Niemand las die Zeitungen oder schnupperte an den Blumen oder sah aus dem Fenster; alle schauten zu Boden und schauten weiterhin zu Boden, als Wilbur Larch eintrat. An einem Schreibtisch,

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