Gottes Werk und Teufels Beitrag
fast täglich bis spät in die Nacht arbeitete.
»Ich habe darüber nachgedacht, wie ich es dir sagen soll«, sagte Larch.
»Sie sagten, daß ich Ihr Lehrling bin, richtig?« fragte Homer ihn. »Wenn ich das bin, sollte man es mir sagen. Wenn Sie mich lehren, dürfen Sie nichts auslassen. Richtig?«
»Das ist richtig, Homer«, pflichtete ihm Dr. Larch bei. Wie hatte der Junge sich verändert! Woran merkt man das Verstreichen der Zeit in einem Waisenhaus? Wieso war es Larch nicht aufgefallen, daß Homer sich rasieren mußte? Wieso hatte Larch es ihm nicht gezeigt? Ich bin für alles verantwortlich – wenn ich überhaupt verantwortlich sein will, ermahnte Larch sich selbst.
»Fuzzys Lunge war nicht stark genug, Homer«, sagte Dr. Larch. »Sie hatte sich nie richtig entwickelt. Er war anfällig für jede Infektion der Atemwege, die ich nur je gesehen habe.«
Homer Wells ließ dies auf sich beruhen. Er bedauerte, daß Fuzzy die Photographie gesehen hatte. Homer wurde erwachsen; er kam allmählich dahin, sich für die Dinge verantwortlich zu fühlen. Diese Photographie hatte Fuzzy Stone beunruhigt; es gab nichts, was Homer oder sogar Dr. Larch für Fuzzys Lunge hätten tun können, aber die Photographie wäre nicht nötig gewesen.
»Was werden Sie den Kleinen sagen?« fragte Homer Dr. Larch.
Wilbur Larch sah Homer an; Gott, wie liebte er, was er da sah! In seinem Vaterstolz konnte er kaum sprechen. Seine Zuneigung zu Homer Wells hatte ihn geradezu ätherisiert. »Was soll ich ihnen denn sagen, Homer?« fragte Dr. Larch.
Es war Homers erste Entscheidung als Erwachsener. Er erwog sie sehr sorgfältig. Damals, 193–, war er bald sechzehn. Als er den Arztberuf erlernte, lernten die meisten Jungen seines Alters gerade Auto fahren. Homer lernte nicht Auto fahren, da Wilbur Larch auch nicht Auto fahren konnte.
»Ich glaube«, sagte Homer Wells, »daß Sie den Kleinen sagen sollten, was Sie ihnen für gewöhnlich sagen. Sie sollten ihnen sagen, daß Fuzzy adoptiert worden ist.«
Wilbur Larch beobachtete Homer aufmerksam. In Eine kurze Geschichte von St. Cloud’s sollte er schreiben: »Wie verabscheue ich die Vaterschaft und alles, was damit verbunden ist! Sie ist das Ende jeglicher Objektivität, jeglichen Sinns für Fairneß. Ich fürchte, ich habe Homer Wells dazu veranlaßt, seine Kindheit zu überspringen – ich fürchte, er hat das Kindsein gänzlich übersprungen. Aber manchen Waisen fällt es leichter, die Kindheit zu überspringen, als im Kindsein zu schwelgen, wo sie doch Waisen sind. Falls ich Homer half, die Kindheit zu überspringen, habe ich ihm damit etwas Schlimmes erspart? Zum Teufel mit diesen verwirrenden väterlichen Gefühlen! Jemanden väterlich zu lieben ist eine Wolke, die einem den Blick auf das richtige Verhalten verstellt.« Als er diese Zeile schrieb, sah Wilbur Larch den im Photographenatelier erzeugten Nebel, den Nebel, der die Photographie von Mrs. Eames’ Tochter mit dem Pony so falsch umrahmte; er begann einen Abschnitt über »Nebel«. (Das schreckliche Wetter in Maine; die Nebel von St. Cloud’s und so weiter.)
Als Homer Wells Dr. Larch vorschlug, er solle den Kleinen sagen, Fuzzy Stone sei adoptiert worden, wußte Larch, daß Homer recht hatte; um diese Entscheidung gab es keinen Nebel. Am nächsten Abend befolgte Wilbur Larch den Rat seines jungen Lehrlings. Vielleicht weil er log, vergaß er die richtige Reihenfolge. Statt mit der Ankündigung wegen Fuzzy Stone anzufangen, sprach er den üblichen Segenswunsch; er brachte das ganze Geschäft durcheinander.
»Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine – ihr Könige Neuenglands!« sprach Dr. Larch sie in der Dunkelheit an. Dann erinnerte er sich daran, was er sagen wollte. »Oh!« sagte er laut, mit einer erschrockenen Stimme, die manche der kleinen Waisen vor Angst im Bett auffahren ließ.
»Was ist los?« schrie Snowy Meadows, der sich immer weiter übergeben mußte; er übergab sich nicht nur vor dem Bild einer Frau mit vermeintlichen Ponygedärmen im Mund.
»Nichts ist los!« sagte Dr. Larch herzhaft, aber der ganze Saal voller Jungen war mit ängstlicher Erwartung aufgeladen. In diese nervöse Atmosphäre hinein versuchte Larch das Übliche über das Unübliche zu sagen. »Freuen wir uns für Fuzzy Stone«, sagte Dr. Larch. Homer Wells merkte, was die Redensart bedeutete, man könne eine Stecknadel fallen hören. »Fuzzy Stone hat eine Familie gefunden«, sagte Dr. Larch. »Gute Nacht, Fuzzy.«
»Gute Nacht, Fuzzy«, sagte
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