Gottes Werk und Teufels Beitrag
er Homer Wells. »Teenager: Ich dachte, ihr wißt alles«, sagte Larch drohend. Homer erfaßte den neuen Ton in der Stimme; er vertiefte sich in diesen Teil des Bildes, den er vorher nie beachtet hatte – ein Fleck auf dem Teppich vielleicht, oder war es eine Lache Blut aus dem Ohr der Frau?
»Na?« fragte Larch. »Es steht nicht im David Copperfield. Es steht auch nicht in Jane Eyre – was du wissen mußt«, fügte er beinah gehässig hinzu.
Die medizinische Wendung, die das Gespräch genommen hatte, ließ Homer zu der Überzeugung gelangen, daß das dort auf der Photographie eine Blutlache war – daß nur ein Arzt es so eindeutig erkennen konnte. »Blut«, sagte Homer. »Die Frau blutet.« Larch lief mit der Photographie zu der Lampe auf dem Apothekertisch.
»Blut?« sagte Larch. »Blut!« Er betrachtete aufmerksam die Photographie. »Das ist kein Blut, du Idiot! Das ist ein Zopf!« Er zeigte Homer Wells noch einmal die Photographie; es sollte Homers letzter Blick auf die Photographie sein, auch wenn Larch sie noch oft betrachten sollte. Er würde sie an die Blätter der Kleinen Geschichte von St. Cloud’s geheftet verwahren; er bewahrte sie nicht aus pornographischem Interesse auf, sondern weil sie ihn an eine Frau erinnerte, die er zweimal mißbraucht hatte. Er hatte vor ihren Augen mit ihrer Mutter geschlafen, und er hatte ihr nicht den Dienst geleistet, den sie zu Recht von ihm verlangt hatte. Er war kein richtiger Arzt gewesen für sie, und er wollte sich an sie erinnern. Daß er gezwungen war, sich an sie mit einem Ponypenis im Mund zu erinnern, machte Dr. Larchs Irrtümer für ihn um so deutlicher zu Irrtümern; Larch wollte es so.
Er war ein harter Mann – auch gegen sich selbst.
Er nahm eine härtere Haltung ein gegen Homer Wells, als die Heiterkeit seiner Verheißungen gegenüber dem Jungen anfangs vermuten ließ – ihn »die Werke« zu lehren, wie Larch es nannte, war nicht so spaßig. Chirurgie, Geburtshilfetechniken – selbst eine normale Geburt, selbst eine einfache Ausschabung – verlangten erhebliche Schulung und Vorbereitung.
»Findest du es forsch, eine Frau mit einem Ponypenis im Mund anzusehen, Homer?« fragte Larch ihn am nächsten Tag – als er nicht mehr unter dem Einfluß des Äthers stand. »Du solltest dir etwas ansehen, das schwerer zu verstehen ist als so etwas. Hier«, sagte Larch und gab Homer das zerlesene Exemplar von Grays Anatomie, »sieh dir das an. Sieh es dir drei- oder viermal am Tag an, und jeden Abend. Vergiß die Ponys, und lerne das.«
»Hier in St. Cloud’s«, schrieb Dr. Wilbur Larch, »habe ich wenig Verwendung für meine Grays Anatomie gehabt; aber in Frankreich, im Ersten Weltkrieg, brauchte ich sie jeden Tag. Sie war die einzige Straßenkarte, die ich dort drüben hatte.«
Larch gab Homer auch sein persönliches Handbuch der Geburtshilfetechniken, seine Kolleghefte von der Medical School und aus seiner Assistentenzeit; er begann mit den Chemievorlesungen und dem Standardlehrbuch. Er reservierte eine Ecke der Apotheke für ein paar leichte Experimente in Bakteriologie, auch wenn der Anblick von Petrischalen in Larch einen altbekannten Schmerz auferstehen ließ; er fand keinen Gefallen an der Welt, die unter dem Mikroskop zu sehen war. Und Larch fand auch keinen Gefallen an Melony, und erst recht nicht an ihrer offensichtlichen Macht über Homer Wells. Larch ging davon aus, daß sie miteinander schliefen; er ging davon aus, daß Melony ihn eingeweiht hatte, was stimmte, und ihn jetzt weiterzumachen zwang, was nicht der Fall war. Irgendwann würden sie miteinander schlafen, wenn auch nur routinemäßig, und jene Macht, die Melony nach Dr. Larchs Ansicht über Homer hatte, wurde aufgewogen durch eine Macht, die Homer über Melony hatte (Homers Versprechen an sie, was Larch nicht wissen konnte). Er wußte Melony in Mrs. Grogans Gewahrsam, und er sah nicht, wieso seine Verantwortung für Homer seine übrigen Verantwortungen überschatten sollte. Er schickte Homer zum Fluß, einen Frosch zu fangen; dann ließ er Homer ihn sezieren, auch wenn nicht alles an dem Frosch nach Grays Anatomie zu erklären war. Es war Homers erster Besuch am Fluß, seit er vor Melonys Verwüstung in der sogenannten Sägewerkerhütte geflohen war, und Homer war beeindruckt, als er sah, daß wahrhaftig das halbe Gebäude verschwunden war.
Homer war auch beeindruckt von der ersten Geburt, bei der er dabeisein mußte – nicht so sehr von irgendwelchen speziellen Fertigkeiten, die
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