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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Dr. Larch offenbar abverlangt wurden, auch nicht von den wirksamen konventionellen Geburtshilfetechniken, die Schwester Angela und Schwester Edna einleiteten. Was Homer viel mehr beeindruckte, war der Vorgang selbst, der bereits weit fortgeschritten war, bevor Dr. Larchs Geburtshilfe begann; was Homer beeindruckte, war, wie sehr das, was mit der Frau und ihrem Kind geschah, im Innersten ihr eigener natürlicher Vorgang war – der tatsächlich vorhandene Rhythmus der Wehen (man konnte die Uhr danach stellen), die Macht der pressenden Muskeln der Frau, der Drang des Kindes, geboren zu werden. Das unnatürlichste daran war für Homer Wells, wie eindeutig feindselig das Kind diese Umwelt empfand, in der es zum erstenmal seine Lunge übte – wie eindeutig unfreundlich, wenngleich nicht uninteressant die neue Welt des Kindes für das Kind war, dessen erste Entscheidung (hätte man ihm die Entscheidung überlassen) vielleicht gewesen wäre, zu bleiben, wo es war. Keine dumme Reaktion, hätte Melony vielleicht bemerkt, wenn sie dabeigewesen wäre. Wie sehr Homer es auch genoß, mit Melony Sex zu machen, war er doch beunruhigt darüber, daß der Akt so viel willkürlicher war als die Geburt. Wenn Homer in die Mädchenabteilung ging, um Jane Eyre vorzulesen, so erschien Melony ihm niedergeschlagen, nicht etwa besiegt oder resigniert; etwas in ihr war müde geworden, etwas in ihrem Aussehen wirkte erschöpft. Immerhin hatte sie sich geirrt, was die Existenz ihrer Geschichte in Dr. Larchs Händen betraf – und sich in wichtigen Dingen zu irren ist ermüdend. Sie war auch gedemütigt worden – zuerst durch das unwahrscheinliche Schrumpfen von Klein Homer Wells’ Penis und später dadurch, wie schnell Homer Sex mit ihr als Selbstverständlichkeit hinzunehmen schien. Und Homer dachte, sie müsse wohl körperlich müde sein – hatte sie doch eigenhändig ein ansehnliches Stück von Menschenhand gemachter Geschichte des Städtchens St. Cloud’s ausgetilgt. Sie hatte ein halbes Gebäude in den Strom der Zeit gestoßen. Sie hat ein Recht, erschöpft auszusehen, dachte Homer Wells.
    Irgend etwas an der Art, wie er aus Jane Eyre vorlas, mutete Homer ebenfalls anders an, als stünde diese – und jede andere – Geschichte nunmehr im Zeichen der jüngsten Erfahrungen seines Lebens: zuerst eine Frau mit dem Penis eines Ponys im Mund, dann sein erstes sexuelles Versagen, sein erster Routinesex, Grays Anatomie und eine selbst miterlebte Geburt. Er konnte Janes angstvolle Sehnsucht, die ihn bisher beim Lesen immer angeödet hatte, nun besser nachvollziehen. Und er dachte: Jane hat ein Recht darauf, so zu empfinden.
    Es traf sich schlecht, daß er – nach allem, was er und Melony gemeinsam durchgemacht hatten – ausgerechnet da an jene Stelle in der Mitte des zehnten Kapitels kam, wo Jane sich vorstellt, wie sie bald ihr Waisenhaus verlassen wird, und wo sie erkennt, daß die wirkliche Welt »weit« ist und daß ihre eigene Existenz »nicht genüge«. Bildete Homer sich nur ein, daß da eine neue Ehrfurcht die Mädchenabteilung erfaßte, als er diesen Abschnitt vorlas – daß besonders Melony bei diesen Sätzen den Kopf neigte, als hörte sie sie zum ersten Mal? Und dann stieß er auf die Zeile: »An diesem Nachmittag entdeckte ich, daß mir die Gewohnheiten der letzten acht Jahre nun nichts mehr bedeuten können.«
    Sein Mund wurde trocken, als er das las; er mußte schlucken, was der Zeile noch mehr Bedeutung verlieh, als er ihr geben wollte. Als er wieder ansetzte, unterbrach ihn Melony.
    »Was war das? Lies das noch einmal, Sonnenstrahl.«
    »An diesem Nachmittag entdeckte ich, daß mir die Gewohnheiten der letzten acht Jahre nun nichts mehr bedeuten können«, las Homer Wells noch einmal.
    »Ich weiß genau, wie ihr zumute ist«, sagte Melony bitter, aber leise.
    »Es tut mir weh, dich so etwas sagen zu hören, Melony«, rügte Mrs. Grogan sanft.
    »Ich weiß genau, wie ihr zumute ist!« wiederholte Melony. »Und du auch, Sonnenstrahl! Klein Jane sollte es mal fünfzehn oder sechzehn oder siebzehn Jahre lang probieren«, erklärte Melony laut. »Sie sollte es probieren und sehen, ob ihr diese Gewohnheiten ›nichts mehr bedeuten‹ werden!«
    »Du tust dir nur selber weh, Liebes, wenn du so weitermachst«, sagte Mrs. Grogan. Und es schien in der Tat so; Melony weinte. Sie war ein zu großes Mädchen, um ihren Kopf auf Mrs. Grogans Schoß zu legen und sich das Haar streicheln zu lassen; sie weinte nur leise weiter. Mrs. Grogan

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