Gottes Werk und Teufels Beitrag
Melony; nie debattierten sie; Melony schien es aufgegeben zu haben, die Stimme zu erheben. Falls sie noch sexuellen Kontakt hatten, so – das wußte Larch – höchstens zufällig und aus bedrückendster Langeweile.
Larch besorgte Melony sogar eine Arbeit als Haustochter mit Logis bei einer wohlhabenden alten Frau in Three Mile Falls. Nun war die Frau womöglich eine verschrobene Kranke, die sich über jede beklagt hätte; über Melony jedenfalls beklagte sie sich ausgiebig – Melony sei »unsensibel«, sagte sie, sie sei niemals »zuvorkommend« im Gespräch, und in bezug auf kleine Handreichungen, etwa wenn sie ihr beim Einsteigen in die Badewanne behilflich sein sollte, sei das Mädchen »unglaublich grob«. Dr. Larch glaubte es gern; Melony beklagte sich ihrerseits; sie sagte, sie wolle lieber in St. Cloud’s wohnen; wenn sie schon eine Arbeit haben müsse, wolle sie lieber eine, bei der sie kommen und wieder gehen konnte.
»Ich will abends zu Hause sein«, sagte sie zu Mrs. Grogan und zu Dr. Larch. Zu Hause? dachte Larch.
Es gab eine andere Arbeit in der Stadt, die aber voraussetzte, daß Melony Auto fahren konnte. Zwar trieb Dr. Larch einen Jungen am Ort auf, der es Melony beibrachte, doch ihre Fahrweise erschreckte den jungen Mann sehr, und sie mußte die Führerscheinprüfung dreimal machen, bis sie sie schließlich bestand. Dann verlor sie die Arbeit – Ausfahren von Material und Werkzeug für einen Bauunternehmer. Sie war nicht imstande, die mehr als zweihundert Meilen zu erklären, die sich im Lauf einer Woche auf dem Fahrtenschreiber des Lieferwagens angesammelt hatten.
»Ich bin nur herumgefahren, weil mir langweilig war«, sagte sie schulterzuckend zu Dr. Larch. »Und ich hab mich ein paarmal mit einem Burschen getroffen.«
Larch machte sich Sorgen, weil Melony, die beinah zwanzig war, nun nicht mehr adoptiert werden konnte und weil keine Arbeit für sie zu finden war; sie mußte unbedingt Homer Wells um sich haben, auch wenn ganze Tage verstrichen, an denen offenbar kein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde – tatsächlich schienen sie manchmal wochenlang über die schiere Anwesenheit hinaus nichts miteinander zu tun zu haben (wenn man in Melonys Fall von »schierer« Anwesenheit sprechen konnte). Weil Melony Dr. Larch so sehr deprimierte, nahm er an, daß ihre Anwesenheit für Homer Wells ebenfalls deprimierend sein müsse.
Wilbur Larch liebte Homer Wells – nie hatte er jemanden so geliebt wie diesen Jungen, und er konnte sich nicht vorstellen, ein Leben in St. Cloud’s ohne ihn aushalten zu können –, aber der Doktor wußte, daß Homer Wells die wirkliche Begegnung mit der Gesellschaft brauchte, wenn er überhaupt je ein selbstbestimmtes Leben haben sollte. Larch träumte davon, daß Homer in die Welt hinausziehen und sich dann dafür entscheiden würde, nach St. Cloud’s zurückzukehren. Aber wer wollte schon eine solche Wahl treffen? fragte sich Dr. Larch.
Maine hatte viele Städte; keine war so reizlos wie St. Cloud’s.
Larch legte sich in der Apotheke nieder und schnüffelte ein wenig Äther. Er erinnerte sich an Portlands sicheren Hafen; in Gedanken hakte er die Städte östlich von Portland oder im Hinterland ab, und seine Lippen erprobten die Städte von Maine mit den guten Namen.
(Einatmen, ausatmen.) Wilbur Larch schmeckte geradezu diese Städte, ihre dunstigen Namen. Da gab es Kennebunk und Kennebunkport, da gab es Vassalborough und Noblehero und Waldoboro, da gab es Wiscasset und West Bath, Damariscotta und Friendship, Penobscot Bay und Sagadahoc Bay, Yarmouth und Camden, Rockport und Arundel, Rumford und Biddeford und Livermore Falls.
Östlich von Cape Kenneth, der Touristenfalle, liegt Heart’s Haven; im Hinterland der hübschen kleinen Hafenstadt, die sich Haven nennt, liegt die Stadt Heart’s Rock. Den Felsen trägt sie in ihrem Namen wegen der unbewohnten Felseninsel, die wie ein toter Wal im sonst makellosen Hafen von Heart’s Haven zu schwimmen scheint. Es ist ein das Auge beleidigendes Eiland, ungeliebt von den Leuten aus Heart’s Haven; vielleicht sahen sie sich bemüßigt, die das Auge beleidigende Stadt Heart’s Rock nach ihrem vogelverschissenen, fischbauchweißen Felsen zu benennen. Bei Hochwasser beinah bedeckt, ziemlich flach im Wasser liegend, hängt er etwas schief, daher sein Name: Dead Whale Rock. Es gibt eigentlich keinen Felsen in Heart’s Rock selbst, einer Stadt, die es nicht verdient, von oben herab betrachtet zu werden; sie liegt
Weitere Kostenlose Bücher