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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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konnte sich nicht erinnern, wann sie Melony zuletzt auf dem Schoß gehalten hatte. Homer fing einen Blick von Mrs. Grogan auf, der ihm bedeutete, schleunigst zu verschwinden. Es war weder das Ende eines Kapitels noch das Ende einer Szene oder auch nur eines Absatzes. Es gab noch mehr zu lesen; die nächste Zeile begann:
»Ich sehnte mich nach Freiheit …« 
    Doch es wäre grausam gewesen, jetzt fortzufahren. Jane Eyre hatte bereits gesagt, was sie zu sagen hatte. Homer und Melony hatten bereits mehrere solcher Nachmittage gehabt – solcher Tage, die einem Überdruß für ein ganzes Leben verschaffen!
    In dieser Nacht schien die Luft zwischen der Mädchenund der Knabenabteilung geruchlos und bar aller Geschichte. Es war schlicht dunkel draußen.
    Als er in die Knabenabteilung zurückkehrte, erzählte ihm Schwester Angela, daß John Wilbur fort sei – adoptiert!
    »Eine nette Familie«, erzählte Schwester Angela Homer glückstrahlend.
    »Der Vater der Familie war auch Bettnässer. Sie werden sehr verständnisvoll sein.«
    Wie es Dr. Larchs Gewohnheit war, wenn jemand adoptiert wurde, wich er etwas von seinem gewohnten Segenswunsch für die Knaben in der Dunkelheit ab. Bevor er sie als »Prinzen von Maine« ansprach, als »Könige Neuenglands«, machte er eine sonderbar feierliche Ankündigung.
    »Freuen wir uns für John Wilbur«, sagte Wilbur Larch. »Er hat eine Familie gefunden. Gute Nacht, John«, sagte Dr. Larch, und die Jungen murmelten ihm nach:
    »Gute Nacht, John!«
    »Gute Nacht, John Wilbur.«
    Und Dr. Larch pflegte eine respektvolle Pause zu machen, bevor er wie üblich sagte: »Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine – ihr Könige Neuenglands!«
    Homer Wells schaute noch ein wenig in Grays Anatomie – bei Kerzenlicht, das ihm gestattet war, bevor er einzuschlafen versuchte. Es war nicht nur John Wilburs Pipi, das diese Nacht fehlte; noch etwas anderes war verschwunden. Homer brauchte eine Weile, um zu merken, was fehlte; die Stille war es, die es ihm schließlich verriet. Fuzzy Stone und sein geräuschvoller Apparat waren ins Spital gebracht worden. Anscheinend bedurfte der Atemapparat – und Fuzzy – sorgfältiger Überwachung, und Dr. Larch hatte das Ganze in das Privatzimmer neben der Chirurgie verlegt, wo Schwester Edna beziehungsweise Schwester Angela Fuzzy genauer im Auge behalten konnten.
    Erst als Homer Wells einige Erfahrung mit Dilatation und Kürette hatte, wurde ihm klar, wie Fuzzy Stone aussah: Er ähnelte einem Embryo – Fuzzy Stone sah aus wie ein laufender, sprechender Fötus. Das erklärte auch, warum man das Gefühl hatte, durch Fuzzys Haut hindurchsehen zu können; und es erklärte seine eingesunkene Gestalt; das ließ ihn so besonders verletzlich aussehen. Er sah aus, als lebte er noch nicht richtig, sondern befände sich immer noch in einem Entwicklungsstadium, das sich eigentlich im Mutterleib vollziehen sollte. Dr. Larch erzählte Homer, daß Fuzzy eine Frühgeburt gewesen sei und sich seine Lunge nie normal entwickelt habe. Homer hatte keine Vorstellung davon, was dies bedeutete, bis er die wenigen noch erkennbaren Teile sah – bei seiner ersten Begegnung mit dem Standardeingriff zur Entfernung der Produkte der Empfängnis.
    »Willst du mir zuhören, Homer?« fragte Wilbur Larch, als der Eingriff vorbei war.
    »Ja«, sagte Homer Wells.
    »Ich sage nicht, daß es richtig ist, verstehst du? Ich sage, daß es ihre Entscheidung ist – es ist die Entscheidung der Frau. Sie hat ein Recht darauf, sich so zu entscheiden, verstehst du?« fragte Larch.
    »Richtig«, sagte Homer Wells.
    Als er nicht einschlafen konnte, dachte er an Fuzzy Stone. Als Homer zum Privatzimmer neben der Chirurgie hinunterging, hörte er den Atemapparat nicht. Er stand ganz still und lauschte; sonst konnte er Fuzzy immer an seinem Geräusch – Lunge, Wasserrad und Ventilator – erkennen, aber die Stille, in die Homer Wells hineinhorchte, machte ein für ihn schrecklicheres Geräusch als das Zischen jener Schlange, die auf das Dach aufschlug, während sein Finger in Melonys Mund war.
    Arme Melony, dachte er. Sie lauschte jetzt Jane Eyre, als sei es ihre Lebensgeschichte, die ihr erzählt würde, und als sie Homer ein einziges Mal ansprach, war es, um ihn an sein Versprechen zu erinnern. (»Du wirst nicht vor mir von hier fortgehen, du erinnerst dich? Du hast es versprochen.«)
    »Wo ist er?« fragte Homer Dr. Larch. »Wo ist Fuzzy?«
    Dr. Larch saß an der Schreibmaschine in Schwester Angelas Büro, wo er

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