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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Gardiner
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mich gleichermaßen.
    »Und was wissen Sie vom Bösen?«, konterte ich. »Führt es Sie regelmäßig in Versuchung?«
    »Oh ja.« Er klang überrascht, dass ich diese Frage überhaupt stellte. »Jedes Mal, wenn ich meine Stimme gegen die Verkommenheit erhebe, versucht das Böse mich daran zu hindern. Wenn ich bei einer Beerdigung demonstriere, kann ich es spüren – eine Kraft, eine Dunkelheit …« Er suchte nach einem Wort. »Das Böse an sich. Natürlich stelle ich mich dem Bösen. Ich kann es um mich herum spüren. Wie es sich ausbreitet, um mich herumschlängelt, mich berührt …«
    In seinen blassen Augen drängten sich plötzlich Emotionen. Für einen kurzen Moment sah ich unendliche, herzerschütternde Angst.
    »Jedes Mal. Das Böse lauert mir auf, versucht meine Abwehrmechanismen zu überwinden …«
    Er schluckte und schüttelte, anscheinend unter Schmerzen, den Kopf. Wie es sich ausbreitet.
    Hatte er tatsächlich Angst davor, sich mit Aids anzustecken? Seine Eidechsenaugen suchten erneut meinen Blick.
    »Das Böse ist etwas sehr Intimes, nicht wahr?«, fragte er. »Intimer als die Liebe, viel intimer als Sex. Es ist das nackte Ausgeliefertsein. Erinnern Sie sich noch, wie verloren Sie sich fühlten, als Sie bemerkten, das passiert jetzt wirklich mir. Die zugeschwollene Kehle, das Rumoren in Ihrem Bauch …«
    Die untergehende Sonne tauchte das Wohnzimmer in orangefarbenes Licht und hauchte den Zeichnungen an den Wänden auf gespenstische Weise Leben ein.
    »Bewahren Sie dieses Gefühl. Lernen Sie damit umzugehen. Das Böse, das Sie belästigt hat, ist nicht verschwunden. Es ist da draußen, und es ist hungrig. Es wartet darauf, Ihren Körper und Ihre Seele zu verzehren, damit es Sie für immer besitzt, wenn Sie tot sind. Für immer.« Seine Stimme senkte sich, bis fast nur noch ein Zischen zu vernehmen war. »Ja, Miss Delaney – können Sie nun die wahre Kraft des Sturmes sehen, der kommen wird?«
    Eine tiefe, unbestimmte Angst sickerte mir in die Knochen. Ich wandte den Blick ab und starrte durch die Schiebetür. Jesse stand am Rand der Rasenfläche. Er betrachtete das Haus mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.
    »Wer ist das?«, fragte Wyoming.
    »Mein Freund.«
    »Er muss gehen.«
    Verwirrt antwortete ich: »Wir wollten jetzt sowieso aufbrechen.« Langsam ging ich nach draußen. Ich brauchte unbedingt frische Luft, ich hatte Gänsehaut auf meinen Armen. Die Tänzerinnen bewegten sich fieberhaft, wie eingesperrte Pferde vor dem großen Gewitter. Als ich mich näherte, konnte ich erkennen, dass sie alle gleich aussahen: blond und durchtrainiert. Sie waren tatsächlich Drillinge. Shiloh blies in die Trillerpfeife. »Auf den Boden, ich will dreißig Stück sehen.« Als die Mädchen sich in den Liegestütz geworfen hatten, marschierte sie auf Jesse zu.
    »Das hier ist eine Probe unter Ausschluss der Öffentlichkeit«, erklärte sie herrisch.
    »Wofür?«, fragte er. »Für ein Nato-Manöver?«
    Wyoming tauchte hinter uns auf. »Sie versucht nur höflich zu sein. Aber Sie stören diese jungen Damen.«
    »Ich dachte, Stören wäre Ihre Spezialität, Reverend Wyoming«, antwortete Jesse.
    Wyoming betrachtete die Krücken. »Der Anblick von Schwäche ist immer störend.«
    Jesse bewegte sich nicht, aber ich zuckte zusammen.
    »Diese jungen Frauen strahlen mit der Kraft, die den Herrn lobt. Sie ist ein Zeichen ihrer Reinheit und Tugend«, sagte Wyoming. »Schwächlinge hingegen sind ein Zeichen des Verfalls, der Sünde, die mitten unter uns bestraft wurde.«
    Jesse verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß. Er war größer als Wyoming, 1,85, und konnte auf ihn herabsehen. »Ich nehme an, dass für jemanden, der bei Beerdigungen gerne die Toten beschimpft, ein lebendiger Gegner ziemlich furchteinflößend wirken muss.«
    »Wer die Verderbtheit des Herzens sät, wird die Verderbtheit des Fleisches ernten. Die Fäulnis wird einsetzen.« Er deutete auf Jesse. »Was immer Sie auch getan haben, Sie sollten dafür Buße tun. Falls Sie nicht zur Hölle fahren wollen.«
    »Da war ich schon, und den Rollstuhl habe ich mir mitgebracht.«
    Das Klingeln von Eiswürfeln kündigte Tabithas Rückkehr an. Sie trug ein Tablett mit großen Gläsern voller Eistee und Ritz-Crackern, die mit Sprühkäse-Kreuzen dekoriert waren.
    »So, bitte sehr«, sagte sie in unterwürfigem Tonfall. »Pastor Pete?«
    Er drehte sich um. »Was soll das sein?«
    Sie hielt ihm das Tablett entgegen. Er verzog das Gesicht. »Weg damit!« Im

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