Gottesdienst
bedroht, und er könnte ihn auch -«
»Stopp!« Ich stand auf. »Sag’s nicht. Denk nicht mal dran.«
Seine Augen glühten. »So etwas nennt man: sich gegen die Realität verschließen.«
»Nein.«
Ein humorloses Lächeln. »Hiermit schließe ich mein Plädoyer ab.«
»Jesse, halt den Mund.«
»Wenn du noch nicht mal gewillt bist, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dann verhältst du dich nicht wie eine gute Anwältin.«
»Ich stecke auch nicht als Anwältin in dieser Situation, sondern als Brians Schwester. Und ich weigere mich, an diese Möglichkeit zu denken. Wage nicht, das noch mal zu erwähnen.«
»Evan, du brauchst etwas Abstand, damit du die Situation objektiv betrachten kannst.«
»Blödsinn! Du meinst also, dass Brian es getan hat?«
»Ich sage nur, dass sich die Cops nicht wie vollkommene Idioten verhalten haben, als sie ihn verhafteten. Er hatte ein Motiv, die Mittel und die Gelegenheit. Und du musst einer Tatsache ins Auge sehen: Peter Wyoming hat Brian an seinem wunden Punkt getroffen, als er versuchte, ihm Luke wegzunehmen. Ist es nicht möglich, dass Brian durchgedreht ist und die Sache selbst in die Hand genommen hat?«
»Nein.«
»Du und ich waren nicht dabei, warum bist du dir also dermaßen sicher?«
Ich war noch nie so wütend auf ihn gewesen wie jetzt. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du warst nicht dabei. Also lass die Spekulationen! Nur weil dir Brian auf die Nerven geht, hältst du ihn für einen Mörder? Du hast nur Scheiße im Kopf, Blackburn.«
Vom Türeingang her waren ein Rascheln und ein leises verängstigtes Wimmern zu hören. Ich konnte gerade noch sehen, wie Luke seinen Kopf zurückzog, um sich zu verstecken.
»Oh mein Gott.«
Lukes Füße trappelten im Gang zurück zu seinem Zimmer.
Ich fuhr zu Jesse herum. »Verdammt, er hat alles gehört.«
Jesse wuchtete sich in seinen Rollstuhl. Er sah völlig fertig aus, aber ich war zu aufgebracht, um mich darum zu kümmern. Ich rannte zum Gästeschlafzimmer. Das Licht war aus.
»Luke?«
Er hatte sich unter dem Bett zusammengekauert. Als ich nach ihm greifen wollte und seinen Rücken berührte, zuckte er zurück. Ich legte mich auf den Bauch und versuchte unter das Bett zu rutschen.
»Luke, Süßer. Komm raus.«
»Nein.« Er hatte Tränen in der Stimme.
»Bitte, Tiger, komm zu mir.«
Aber er rollte sich nur noch mehr zusammen und weinte leise vor sich hin.
Jesse tauchte in der Tür auf. »Luke? Hey, Kleiner, ich -«
Mit einer Handbewegung scheuchte ich ihn weg.
Es kostete mich eine halbe Stunde, bis ich Luke wieder hervorgelockt hatte. Und selbst als ich ihn unter die Bettdecke verfrachtet hatte, redete er noch nicht mit mir. Er entspannte sich auch nicht, als ich ihm erklärte, Jesse hätte es nicht so gemeint, und dass es mir leidtat, dass er unseren Streit mitbekommen hatte … Warum sollte er auch? Meine Worte klangen in meinen eigenen Ohren unpassend und unehrlich.
Ich fand Jesse vor den Panoramafenstern im Wohnzimmer.
Er starrte hinaus auf die Wellen. Der Schein des Feuers färbte den östlichen Himmel.
Er drehte sich nicht zu mir um. »Es tut mir so unendlich leid.«
»Was glaubst du eigentlich, was kann ein Sechsjähriger noch alles verkraften, bevor er dran zerbricht?«
Er schloss die Augen und ließ die Schultern hängen. »Evan …«
Ich konnte die Reue in seiner Stimme hören, aber auch den Widerstand. »Du solltest jetzt besser keinen Streit mit mir vom Zaun brechen, glaub mir das.«
Weitere Sekunden vergingen.
»Ich brauch frische Luft«, fügte ich hinzu.
Ich machte mich auf Richtung Strand. Die Nacht war heiß, der Himmel orange-silbern gescheckt von Feuerschein und Mondlicht. Die Wellen leckten an meinen Füßen wie schaumige Zungen. Mein Kopf dröhnte. Nach wenigen Metern fing ich an zu laufen.
Wie konnte Jesse nur glauben, dass Brian Peter Wyoming getötet hatte?
Ich wurde schneller, hörte, wie meine Füße auf den Sand patschten, lief immer weiter, wollte, dass mein Herzschlag alle anderen Geräusche, alle anderen Gedanken verdrängte. Ich rannte und rannte, einige Kilometer, bis ich merkte, dass ich wieder umkehren musste. Meine Lungen brannten von der rauchgeschwängerten Luft. Ich blieb stehen, stützte die Hände in die Hüften und warf den Kopf zurück. Mein Gesicht glühte vor Hitze, unter meinem verschwitzten T-Shirt rann mir der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter. Die Stiche juckten.
So kalt die Wellen gewesen waren, als ich zu laufen begann, so
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