Gottesdienst
»… eine Sekte waren. Ich meine, wir würden uns niemals einer Sekte anschließen. Uns kamen die Standhaften wie eine großartige Kirche voller engagierter Christen vor.«
»Sie ließen keinen Zweifel an ihrem Standpunkt«, fügte Kevin hinzu. Er hielt seine Hand in die Luft wie ein Fleischerbeil.
»Sie hatten eine Botschaft, die für uns genau ins Schwarze traf. Wir dachten: Das ist es.«
»Und sie haben sich um uns gekümmert«, sagte Alicia. »Sie haben sich immer so gefreut, wenn wir zu den Gottesdiensten kamen. Ich meine, wir waren ja anfangs eingeladen worden, uns ihnen anzuschließen.«
»Wie das denn?«, fragte ich.
»Eine Aushilfslehrerin an Karinas Schule hat uns gefragt. Karina ist unsere Tochter.«
Sie nahm ein gerahmtes Foto vom Bücherregal. Karina war ungefähr dreizehn und hatte Alicias brünettes Haar und ihren breiten Mund. Sie hielt ihren kleinen Kopf schräg zur Kamera und lächelte schief.
»Diese Aushilfslehrerin hat uns erzählt, dass die Standhaften viele Freizeitaktivitäten für Kinder anbieten und dass wir bei ihnen die Antwort auf alle unsere Fragen finden würden. Und Karina hat sich richtiggehend in Shiloh verliebt.«
»Shiloh?«, fragte ich.
»Ja, Shiloh Keeler«, antwortete Kevin. »Wie sich rausstellte, ist sie eine richtige kleine Schleiferin.«
Alicia verkrampfte die Hände ineinander. »In den ersten Monaten dachten wir wirklich, wir hätten eine neue Heimat gefunden. Jeder dort schien so viel Kraft zu haben. Und die Kirche hat gute Werke vollbracht, zum Beispiel mit Chenille Wyomings Hilfsprogramm für Ausreißer.«
Davon hatte ich nichts gewusst.
»Sie geht in die Obdachlosenunterkünfte und auf die Straße und spricht mit den Mädchen. Und es hilft. Sie bringt diese Straßenkinder dazu, in die Kirche zu kommen, bietet ihnen warmes Essen und einen Schlafplatz an und verspricht, nicht die Polizei zu benachrichtigen.«
»Oder ihren Zuhälter«, fügte Kevin hinzu.
»Genau. Sie lässt diese Mädchen wissen, dass sie in Sicherheit sind. Es ist wunderbar. Natürlich verschwinden viele auch wieder, weil sie die Disziplin nicht ertragen, aber manche bleiben. So wie Glory Moffett.«
»Chenilles Schoßhündchen.«
»Kevin, das ist nicht sehr nett.«
Ich lehnte mich zurück und ließ das alles auf mich wirken.
»Aber nach einer Weile«, erzählte Alicia weiter, »wurde alles ziemlich seltsam.«
Sie blickten sich an. Schließlich ergriff Kevin das Wort. »Pastor Pete hatte Probleme mit Dreck.« Ein säuerliches Lächeln. »Er hielt die gesamte Welt für dreckig.«
»Er hatte eine Phobie vor Keimen«, sagte Alicia. »Sind Ihnen schon mal seine Hände aufgefallen? Immer rot und wund. Das lag daran, dass er nicht aus dem Haus gehen konnte, ohne sich zwölfmal die Hände zu waschen. Und auch in seinen Predigten ging es immer nur um Keime, Keime, Keime. Entweder waren sie ein Werk des Teufels oder Gottes Rache. Deswegen zwang er jeden, bei den Beerdigungen von Aids-Opfern zu demonstrieren. Er war besessen davon.«
Kevin sagte: »Erzähl ihr von den Gaben.«
»Oh. Von den Mitgliedern der Gemeinde wurde erwartet, dass sie eine Gabe, eine Begabung offenbarten, die sie vom Heiligen Geist erhalten hatten. Eltern sollten bei ihren Kindern danach suchen.«
»Welche Art von Begabung?«
Kevin verschränkte die Arme. »Singen oder auch Treffsicherheit mit dem Gewehr.« Ich runzelte die Stirn. Kevin fuhr fort. »Ja, Pastor Pete stand auf Showbiz, aber Chenille und Ice Paxton bevorzugten Kinder, die ihr Geschick im Survival-Training zeigten.« Sein Lächeln war verschwunden. »Einmal steht so ein Zehnjähriger in der Kirche auf und demontiert fachgerecht ein M-16-Gewehr und setzt es wieder zusammen. Da dachte ich mir, hallo, das ist aber nicht ganz koscher hier.«
Alicias verkrampfte Hände wurden schon ganz weiß. »Aber wissen Sie, Karina mit ihrer Kinderlähmung, sie …« Sie brach den Satz ab.
»Sie haben rausgefunden, was Pastor Pete von Menschen mit Behinderung hielt?«
»Nein, damals noch nicht, sonst wären wir gleich ausgestiegen. Die Leute haben sich vorbildlich um Karina gekümmert. Curt Smollek hat immer Späßchen mit ihr gemacht, und Chenille nannte Karina ›mein kleines Lamm‹.«
»Ich war dann natürlich so dumm und habe Paxton nach dem Kind gefragt, das mit der M-16 rumhantierte«, sagte Kevin. »Ich erzählte ihm, dass ich nichts gegen Selbstverteidigung hätte, aber wo steht denn in der Bibel, dass die Fähigkeit, mit einem Gewehr umgehen zu können, eine
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