Gottesdienst
sollte. »Es belastete Dr. Jorgensen, und jetzt belastet es mich. Die Umstände – da passt alles irgendwie nicht zusammen.«
Sie schilderte mir die Abfolge der Ereignisse, die zu Mel Kalajians Tod führten. Es war ein ganz normaler Abend unter der Woche, Anfang Juli. Kalajian hatte Patienten besucht, die nach ihrer Operation im St. Francis lagen. Er verließ das Krankenhaus gegen 19.30 Uhr und ging zu Fuß zurück zur Praxis, die um diese Uhrzeit schon geschlossen war.
Kalajian, so Olson, war ein großer, gut gebauter Mann Anfang vierzig, der auf sein Äußeres achtete. Fünfmal die Woche ging er ins Fitness-Studio.
»Er hat Gewichte gestemmt, verstehen Sie? Er hatte wirklich Kraft.«
Hier hatte er sein Sprechzimmer aufgesucht. Dann – vielleicht hatte er Licht bemerkt, wo keines brennen sollte, oder ein Geräusch gehört – betrat er einen der für kleinere Operationen ausgestatteten Behandlungsräume.
Aus der Unordnung in diesem Zimmer ließ sich schließen, dass Kalajian sich gewehrt haben musste. Die Blutlache, die sich um die Leiche herum gebildet hatte, deutete darauf hin, dass er dort gestorben war, wo ihm die tödlichen Verletzungen beigebracht wurden. Man hatte ihm eine Fettabsaugkanüle in die Brust gestochen.
»Die Polizei war nicht gerade hilfsbereit«, erzählte Olson. »Außer ihrer Vermutung, dass ein Drogensüchtiger in die Praxis eingebrochen sei, konnte ihnen Dr. Jorgensen keine weiteren Informationen entlocken, ganz egal, wie sehr er auch darauf bestand.«
Ich konnte mir die verfahrene Situation auf der Polizeiwache genau vorstellen: der einerseits arrogante und doch gramgebeugte Jorgensen, und ihm gegenüber die Beamten, die nichts rausrücken wollen.
»Dr. Jorgensen hatte den Verdacht, dass eine bestimmte Patientin an der Tat beteiligt war.« Sie blickte mich prüfend an.
»Warum das?«
»Als uns die Polizei wieder zurück in die Praxis ließ, stieß er auf etwas. Es war nur ein kleiner Hinweis, aber er hielt ihn für wichtig. Er fand ein Blatt Papier unter dem Empfangstresen, das aus einer Patientenakte stammte – den Bogen, den jeder Patient ausfüllen muss, wenn er zum ersten Mal zur Behandlung kommt. Er wollte das Blatt zurück in die zugehörige Akte legen, aber die war nicht mehr da. Er war davon überzeugt, dass sie jemand hatte verschwinden lassen, der – oder vielmehr die – verbergen wollte, dass sie jemals Patientin bei uns war. Und das hieß, sie hatte etwas mit dem Raubmord zu tun.«
Wahrscheinlich wirkte ich ziemlich skeptisch.
»Ich weiß, es mag etwas weit hergeholt klingen. Aber er versuchte, die Patientin ausfindig zu machen. Ihr Name stand ja auf dem Bogen. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Name und die Adresse gefälscht waren.«
»Hat er das der Polizei erzählt?«
»Ja, aber sie konnten den Hinweis nicht groß weiterverfolgen. Die Fingerabdrücke der Person fanden sich in keiner Kartei. Die Polizei hat nie ihren wirklichen Namen rausgefunden. Und danach haben sie das Interesse daran verloren.«
»Welchen Namen hatte die Patientin denn auf dem Bogen angegeben?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Es war kein auffälliger Name.«
»Können Sie sich vielleicht an was anderes erinnern? Ihr Alter, ihre Hautfarbe, warum sie in die Praxis kam?«
»Nein, und ich dürfte es Ihnen auch nicht sagen, selbst wenn ich es wüsste. Das würde gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen. Warum?«
»Weil Dr. Jorgensen mit ziemlicher Sicherheit dachte, dass sie zu den Standhaften gehört. Als er in jener Nacht in den Gottesdienst eindrang, hat er auf jemanden gezeigt und geschrien: ›Sie weiß es.‹«
»Oh, mein Gott.«
Sie blickte auf die Aktenordner und die Computer hinter dem Empfang. »Würden Sie sie wiedererkennen?«
»Wenn sie zu den Standhaften gehört, wahrscheinlich schon.«
»Kommen Sie.« Sie trat hinter den Empfang und schaltete einen Computer ein. »Unsere jüngsten Patientenakten haben wir alle im Computer, und sie enthalten auch Fotos. Wir benutzen eine Digital-Imaging-Software, mit der der Chirurg Fotos verändert, damit der Patient sehen kann, wie er nach der Operation aussehen wird.« Der Computer fuhr hoch. »Ich darf Ihnen das eigentlich gar nicht zeigen. Aber wenn Sie glauben, dass Sie diese Frau wiedererkennen können …«
»Ich werde keine persönlichen Daten ausspionieren, das verspreche ich Ihnen.« Ich setzte mich an den Computer.
»Es sind Hunderte von Dateien«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass diese Frau eine Patientin von
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