Gottesdienst
bitten, auf Luke aufzupassen.«
»Aber sie macht das gerne«, widersprach er. »Für sie ist es eine schöne Abwechslung. Er ist ein braver Junge.«
Im Hintergrund konnten wir die Geräusche vom Schulhof hören. Sie erinnerten uns beide daran, dass Luke eigentlich dort sein sollte.
»Nein, damit es hat nichts zu tun. Ich wollte Luke eigentlich wieder zur Schule schicken, aber mittlerweile habe ich Informationen, dass die Standhaften in rauen Mengen Waffen anhäufen und letzten Sommer in einen Mordfall verwickelt waren.«
Mehr musste ich nicht sagen. Falls Luke oder einem anderen Kind in der Schule etwas passierte, konnte ich mich gleich umbringen. Und falls Nikki etwas zustieß …
»Was ist mit der Polizei?«, fragte Carl.
»Die wissen Bescheid.«
Er ging weiter Richtung Haus. Plötzlich blieb er stehen, hob warnend einen Finger, dann kam er zurück und nahm mich fest in die Arme. »Pass bloß gut auf dich auf, Mädchen.«
18. Kapitel
Das Großfeuer war inzwischen gelöscht, und es hatte wieder aufgeklart. Über dem Gipfel des La Cumbre konnte man Drachenflieger beobachten, und entlang der gesamten Küstenlinie reihten sich Segelboote wie kleine Punkte. Um die Mittagszeit des nächsten Tages machte sich Jesse auf in das Los-Baños-Schwimmbad am Hafen. 2000 Meter Freistil sollten ihm gegen die Schmerzen helfen und dabei, sich mit seinem Körper zu versöhnen. Schwimmen bedeutete Konzentration aufs Wesentliche: keine Kreuzverhöre, kein Gelaber über die Endzeit, keine zwischen den Zeilen verborgenen Gefühlswallungen. Nur der Rhythmus der Schwimmzüge und das Wasser, das über ihn hinwegglitt. Nach den 2000 Metern fühlte er sich besser. Er spürte, dass seine Herzfrequenz die 120 nicht überstiegen hatte und entschied sich für ein paar zusätzliche Einheiten: zehnmal 100 Meter Delfin, unter der Dreiminutengrenze. Es war anstrengend, aber nichts Außergewöhnliches. Sein Rhythmus war nicht mehr der gleiche wie früher, jetzt wo ihm die Kraft des gesunden Beins fehlte, aber daran hatte er sich gewöhnen müssen. Mit dem Kopf unter Wasser erreichte er mit einem letzten langgezogenen Stoß das Beckenende und stützte sich schwer atmend auf die Sperrmarkierung zwischen den Bahnen. Es gab nichts Besseres als schwere körperliche Anstrengung, wenn man seine Perspektive auf die Welt überdenken wollte.
Er fuhr gerade zurück zur Arbeit, als eine Frau vor ihm auf die Straße rannte. »Scheiße.« Er riss an der Handbremse und spürte, wie das ABS griff, als der Wagen langsamer wurde. Die Frau schrie. Aber sie schrie nicht ihn an – sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Sie war barfuß, trug Lockenwickler im Haar und schwenkte ein Luftgewehr in den Händen. Sie zielte damit auf ein Stinktier.
Der Gegenverkehr kam näher, der Straßenrand war zugeparkt. Er konnte nirgendwohin ausweichen. Die eine Hand hatte er am Steuer, die andere an der Bremse – so konnte er nicht einmal auf die Hupe hauen.
Die Frau war äußerst wacklig zu Fuß. Zwischen den Zehen hatte sie Wattebäuschchen, die den glänzenden pinkfarbenen Nagellack schützten, den sie aufgetragen haben musste, kurz bevor sie zur Waffe griff. Trotzdem war sie dem schwarz-weißen Tier, das vor ihr über die Straße wackelte, direkt auf den Fersen. Das Gewehr erhoben, zielte sie wie ein angetrunkener Saloon-Cowboy.
Jesses Wagen kam zum Stehen, und sie feuerte. Vorbei. Das Stinktier blieb stehen und lüftete den Schwanz. Gerade als das Tier sein Sekret versprühte, feuerte sie noch einmal: das Stinktier zuckte getroffen zusammen, stolperte und fiel um.
Jesse kurbelte das Fenster hinunter. Der Gestank war entsetzlich, aber weder das schien die Frau zu bemerken noch die Tatsache, dass sie beinahe von einem tonnenschweren Fahrzeug überrollt worden war.
»Lady, was zur Hölle machen Sie da eigentlich?«, fragte Jesse.
Vorsichtig näherte sie sich dem kleinen Tier und stupste es mit dem Lauf des Gewehrs in den Bauch. Es bewegte sich nicht. Sie schnappte das Stinktier am Schwanz, hob es in die Höhe und starrte ihm ins Gesicht.
»Hab ich dich, du kleiner Scheißer.«
Ihre Lockenwickler glänzten in der Sonne. »Ich hab genau gesehen, wie es in meinen Büschen hockte und mich ganz seltsam anschaute. Es war tollwütig, aber ich hab es erwischt.«
Die Panik war also schon ausgebrochen.
Am Abend rief ein Beamter des Gesundheitsamts an und wollte von mir Details über mein Zusammentreffen mit Neil Jorgensen erfahren. Nachdem ich fünfzehn Minuten lang seine
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