Gottesopfer (epub)
von Sünde, Seelenheil und Hölle eingeimpft, ihn gelehrt, wie man Sünder und Ketzer tötete? So wie die Frauen, die einst in der Nähe seines Klosters verschwunden waren? Sam musste sich zügeln, das waren reine Spekulationen.
Ein zweites Detail seines Gesprächs mit Schwester Maria stieg in seinem Gedächtnis auf. Schwester Augustina und der rätselhafte Junge seien irgendwie verbunden gewesen, hatte sie gesagt. Aber wie? War Schwester Augustina vielleicht die Mutter des Jungen gewesen? Hatte sie sich einer unterdrückten Leidenschaft hingegeben, hatte sich verführen lassen und ein Kind bekommen, das sie stets an ihr gebrochenes Gelübde erinnerte? Hatte der Vater deshalb das Kind im Kloster abgeliefert, damit es in der Nähe seiner Mutter war? Vielleicht passte das ja alles zusammen: Der Junge war der Sohn der Schwester Oberin, fand das heraus und bestrafte sie, aufgehetzt von dem alten Priester. Die abgeschnittenen Haare der Nonne wiesen eindeutig auf den Mörder hin, mit dem er es heute, fast zwanzig Jahre später, zu tun hatte. Hatte der kleine Junge von dem Foto, der 1995 bereits ein Halbwüchsiger war, im Kloster seinen ersten Mord verübt? Sam versuchte sich zu erinnern, ob Pater Dominik verschiedenfarbige Augen hatte. Während er in Gedanken versunken im Burghof stand, bemerkte er nicht, dass er in diesem Moment von einem eigenartigen Augenpaar eindringlich beobachtet wurde.
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HAMBURG
Lina lag gefesselt und geknebelt auf einer stinkenden Matratze, ohne Bezug und ohne Decke, und ihr war schrecklich kalt. Die Feuchtigkeit sickerte wie durch einen Schwamm in jede Pore und drang bis zu ihren Knochen. Ihre Haare fühlten sich komisch an, als würden sie zusammenkleben. Sie konnte sich kaum bewegen und sah nichts. Es war stockdunkel um sie herum. Wo war sie? Wie war sie überhaupt hierhergekommen? Und was war passiert? Sie dachte angestrengt nach. Sie hatte geduscht, dann hatte es an der Tür geklingelt. Sie hatte gedacht, Sam sei zurückgekommen und würde sie vielleicht mit frischen Brötchen überraschen. Aber es war nicht Sam gewesen, sondern ein Mann mit einer dunklen Mütze über dem Gesicht. Er hatte sie niedergeschlagen. Und dann? Sie wusste nichts mehr. Wo hatte er sie hingebracht? Und wie viel Zeit war seitdem vergangen? Fragen über Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Sie versuchte, sich vom Bauch auf den Rücken zu drehen. Ein schwieriges Unterfangen, wie sich herausstellte, denn ihre Beine waren am Bettgestell festgebunden. Sie blieb also auf dem Bauch liegen und atmete den modrigen, leicht säuerlichen Geruch ein, den die Matratze verströmte. Sie roch nach menschlichen Ausdünstungen. Ich bin nicht die Erste, die hier auf diesem Bett liegt, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Ein Gefühl der Panik überkam sie. Wie ein Rauschen in ihren Ohren hörte sie das Wort Gefahr. Wer hatte es zu ihr gesagt? Oder es ihr geschrieben? War sie nicht gewarnt worden? Aber wann? Und von wem? Dunkel fiel ihr die Praxis von Doktor Ritter ein. War er ihr Entführer? Ein Psychopath wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer ?
In Gedanken flehte sie ihre Schutzengel an, zu ihr zu sprechen, sich zu zeigen und den Raum zu erhellen. Aber es passierte nichts. Keiner sprach zu ihr, und es wurde auch nicht Licht in ihrem Verlies. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte einen Schatten in der Ecke ausmachen. Die Umrisse eines Stuhls. Aber sie sah keinen Tisch. Wozu stand da ein einzelner Stuhl? Vielleicht, weil man von der Ecke den ganzen Raum beobachten konnte? Aber dort saà keiner.
Wieder atmete sie den ekelhaften Geruch der Matratze ein. Ihr wurde schlecht. Sie durfte sich jetzt nicht übergeben, sonst würde sie an ihrem eigenen Erbrochenen ersticken, denn ihr Mund war ja mit einem Pflaster oder Klebeband zugeklebt. Sie schluckte die Ãbelkeit herunter und atmete langsam tief durch die Nase ein und aus. Immer wieder sagte sie sich, dass sie ruhig bleiben müsse. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. So konnte sie in eine andere Welt tauchen und dieser hier entfliehen. Und wenn sie aufwachte, war vielleicht alles nur ein böser Traum gewesen, und sie lag zu Hause in ihrem Bett.
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BURGHAUSEN
Eine lange, bunt gekleidete Menschenschlange hatte sich vor dem Palas gebildet. Wer an dem mittelalterlichen Schlemmgelage teilnehmen wollte, musste dreiÃig Euro
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