Gottesopfer (epub)
Punkt.« Lohmann seufzte, als hätte er den letzten Atemzug getan, dann atmete er wieder ruhig.
»Was sehen Sie? Können Sie etwas hören? Musik vielleicht?«
»Nein. Es ist eine herrliche Ruhe. Ein wunderschönes Gefühl. Ich fühle mich gut.« Sein Gesicht war entspannt, und er lächelte leicht. Lina kannte diesen Gesichtsausdruck. So hatten ihre GroÃmutter und ihr Onkel ausgesehen, nachdem sie gestorben waren. Weil sie einen so zufriedenen Gesichtsausdruck hatten, hatte sie sich immer gefragt, was sie wohl sahen, ob sie noch etwas empfanden. Anscheinend spürte die Seele nach dem Verlassen des Körpers doch noch etwas.
»Was haben Sie aus diesem Leben gelernt?«, fragte Doktor Ritter.
»Ich habe eine Entscheidung getroffen, obwohl ich mir nicht sicher war und obwohl ich Angst hatte. Es war eine Entscheidung, die ich nicht hätte treffen dürfen.«
»Haben Sie gelernt, wann Sie Entscheidungen treffen sollten?«
»Ja, nur wenn ich mir hundertprozentig sicher bin.«
Doktor Ritter lehnte sich zufrieden zurück und holte dann den Patienten aus der Hypnose, indem er von eins bis fünf zählte.
Herr Lohmann schlug die Augen auf und wirkte entspannt und ausgeruht. Erstaunlich, wenn man an die Strapazen denkt, die der Mann gerade durchgemacht hat, überlegte Lina.
»Sie haben heute einen groÃen Fortschritt gemacht, Herr Lohmann. Ich denke, wir werden Ihr Problem bald gelöst haben.«
Peter Lohmann lächelte erleichtert. Er bezweifelte nicht, dass sein Therapeut recht hatte. Doktor Ritter erhob sich, gab seinem Patienten zum Abschied die Hand und verlieà das Sprechzimmer, während Herr Lohmann sich langsam die Schuhe anzog, Lina die Kassette aus dem Rekorder nahm und die Gläser von dem kleinen Beistelltisch abräumte.
Sie sah auf die Uhr, die nächste Sitzung war erst in zwei Stunden. Als Herr Lohmann schlieÃlich die Praxis verlassen hatte, erklärte Doktor Ritter Lina, dass es viele Menschen gab, die unerklärliche Ãngste hatten, ja sogar Schmerzen, für die es keine medizinische Ursache gab. Seine Erfahrungen in den letzten Jahren hatten ihm gezeigt, dass viele dieser angeblich unerklärbaren Phobien aus anderen Leben stammten, an die sich die Menschen zwar nicht mehr erinnerten, die sie aber dennoch gelebt hatten. Es sei wissenschaftlich erwiesen, so Doktor Ritter weiter, dass die Menschen nur zehn Prozent ihres Gehirns nutzten. Die Frage sei, was in den restlichen neunzig Prozent gespeichert sei. Informationen und Erlebnisse aus anderen Leben, die unter Hypnose abgerufen werden konnten?
Als sie am Abend nach ihrem ersten Arbeitstag in der Hypnosepraxis nach Hause ging, war Lina sehr nachdenklich. Sie stellte sich die Frage, welche Ãngste sie eigentlich mit sich herumtrug, doch ihr fiel dazu spontan nichts ein. Sie war erleichtert, denn sie war überzeugt, dass Ãngste die Menschen einengten und sie in gewisser Weise zu Marionetten machten.
12
AM GENFER SEE
Eigentlich hätte Sam direkt von Salzburg nach Hamburg fliegen müssen. Jeder Tag, jede Stunde zählte, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Aber heute war ein besonderer Tag: der Geburtstag seines einzigen Freundes Phillippe Argault, und es war Tradition, dass sie sich an diesem Tag sahen. Normalerweise wäre er mit dem Auto gefahren, aber um Zeit zu sparen, musste er wohl oder übel abermals ins Flugzeug steigen.
Am Flughafen Lausanne mietete er sich einen Wagen, fuhr auf die E62 Richtung Montreux und folgte ab Chenaux der Beschilderung zum Genfer See. Vor zwei Jahren hatte er mit Argault eine Radtour entlang der Weinberge des Lavaux über die zweitausend Meter hohen Berge von Lausanne nach Vevey, Montreux und schlieÃlich nach Ãvian-les-Bains gemacht. Eine beeindruckende Strecke, die auch an der Rhone entlang und durch viele kleine, sehr alte Orte führte. So frei und glücklich wie damals hatte er sich seitdem nicht mehr gefühlt. Er fuhr jetzt langsamer und versuchte, sich an die kleine StraÃe zu erinnern, die direkt zu Argaults Villa führte.
Von der HauptstraÃe gingen viele kleinere StraÃen ab, und er war schon kurz davor, bei Argault anzurufen und die Ãberraschung in den Wind zu schieÃen, als er an einem Zaun vorbeikam, den er wiederzuerkennen meinte. Er bog in die nächste kleine StraÃe ein und sah nach etwa zweihundert Metern das hohe schmiedeeiserne Tor der zweigeschossigen Villa mit ihren
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