Gottessoehne
15
Lea öffnete die Augen. Trotz ihres weichen Bettes, es bestand aus einem rechteckigen Holzgestell auf dem aneinandergenähte Felle gespannt waren, hatte sie, wie schon die Tage zuvor, schlecht geschlafen. Das gestrige Mahl und der reichliche Weingenuss lagen ihr schwer im Magen. So ging es nun fast jeden Abend, seit sie hier auf der rotbraunen Festung lebte. Jeden Abend wurden Unmengen an gekochtem Fleisch und Gemüse sowie süßes Obst aufgetischt. Der Wein floss in Strömen und meistens wurden spät am Abend verschiedene Tänze dargeboten. Die jungen weiblichen und männlichen Akteure stammten, neben den jugendlichen Musikern, ausnahmslos aus dem Dorfe Noahs und benetzten ebenso ihre Kehlen reichlich mit dem süßen Wein.
Die Frauen, die wie Lea neben ihren Söhnen saßen, kannte sie alle, hatten sie doch jahrelang zusammen gelebt. Die Mütter waren auch die einzigen Frauen, mit denen die Nephilim engeren Kontakt hatten. Keiner von ihnen lebte mit einer Frau zusammen. Allerdings schienen ihnen fleischliche Gelüste nicht fremd zu sein, denn wie so oft waren Lea und die anderen Mütter nach dem Festmahl in ihre Gemächer geschickt worden, ihre Söhne blieben dann alleine mit den blutjungen Tänzerinnen im Saal. Auch in dieser Nacht war der Lärm von schrillem Gelächter, berstendem Tongeschirr und vereinzelte spitze Schreie bis in Leas Zimmer gedrungen. Am Tag hatte sie beobachtet, wie aufreizend gekleidete und mit Kohlkajal sorgfältig geschminkte Frauen in die Festung gekommen waren. Huren! Ihr Sohn verkehrte mit Huren! Sie hatte versucht, ihm ins Gewissen zu reden, doch er hatte ihre Argumente wie lästige Fliegen weggewischt. Er hatte sich ebenso taub gestellt, als sie ihn gebeten hatte, diesen Ort zu verlassen um mit ihr zurück ins Dorf zu kehren. Und als sie ihm von ihren Befürchtungen einer nahenden Katastrophe berichtete, hatte er nur gelacht und höhnisch die Augen verdreht. Sie sollte doch nicht auf dieses Hirngespinst von Noah reinfallen. Er und seine Cousins würden mit allem fertig werden, was sich ihnen in den Weg stellen würde.
Lea seufzte, Samsaveel hatte Recht gehabt. Ihr Sohn war nicht mehr derselbe. Sie erhob sich von ihrem Bett und ging zu der einzigen Fensteröffnung in ihrem Schlafraum. Es regnete in Strömen. Der Himmel war grau und die stetig herab rieselnden Wasserfäden nahmen ihr die Sicht auf die Umgebung. So ging es schon seit Tagen. Es war, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet und das gesamte Wasser der Welt würde sich auf dieses Land ergießen. Es war naiv von ihr gewesen, einfach von zu Hause wegzugehen, in der Hoffnung, ihren Sohn mit ihren Worten umzustimmen. Sie hatte Samsaveel nicht gesagt, was sie vorhatte und wo sie hingehen wollte, er hatte keine Ahnung wo sie sich befand. Sie vermisste ihn schmerzlich. Konnte er nicht ihre Sehnsucht spüren? Er konnte sich doch denken, wo sie hingegangen war. Warum kam er nicht, um sie zu holen und um einen letzten Versuch zu wagen, ihren gemeinsamen Sohn vor dem nahenden Unheil zu retten? Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen.
Sie wand sich vom Fenster ab, sie konnte den Anblick des ewigen Regens nicht mehr ertragen. Sie musste mit jemanden reden. Nur mit wem? Die anderen Mütter, mit einigen war sie früher eng befreundet gewesen, schienen ihre Bedenken nicht zu teilen. Ganz im Gegenteil. Sie betrachteten ihre Söhne in einer Weise, als wären sie Übermenschen. Sie hingen an ihren Lippen, saugten jedes Wort auf und hießen all ihre Taten gut. Sie vergötterten sie regelrecht. Dass ihre Männer dagegen mit jedem Tag stiller und zurückhaltender wurden, bemerkten sie nicht. Lea war diese Veränderung sofort aufgefallen, nachdem sie in der Festung angekommen und von der Gemeinschaft begrüßt worden war. Die Grigori, früher voll kraftstrotzender und schöner Männlichkeit, wirkten, als ob sie von innen heraus am verlöschen wären. Ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren, ihr dichtes Haar wirkte stumpf und die Bewegungen waren kraftlos und ungelenk. Sie zogen sich auch immer mehr aus den gesellschaftlichen Aktivitäten der Festungsbewohner zurück, so dass an den meisten abendlichen Festen keiner der Wächter zugegen war. Nur Azazel hatte sich nicht verändert. Er hatte nichts von seiner übernatürlichen Kraft und Schönheit eingebüßt und suchte den Kontakt zu seinem Sohn und Stiefsohn.
Mit Unterstützung von einer der Frauen konnte sie also nicht rechnen, doch sie musste unbedingt versuchen, ihnen allen
Weitere Kostenlose Bücher