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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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an die Stirn.
Visum repertum, visum repertum, visum repertum   ...
    Die Hände zitterten ihm ein wenig, nur schwer rang sich das |306| Geflüster durch die Kehle und über seine Lippen. Der Hunger quälte ihn. Der Durst noch mehr. Ein seltsames, sehr ungutes Gefühl
     breitete sich in ihm aus.
    Das Gefühl der Verzweiflung.
     
    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, wie lange er sich schon in seinem Gefängnis befand. Er hatte schnell sein Zeitgefühl
     verloren, immer wieder schlief er ein, manchmal war es nur ein nervöser Sekundenschlaf, dann wieder ein Tiefschlaf, der Ohnmacht
     ähnlich. Seine Sinne verwirrten sich, er hörte Stimmen, Gestöhn, Wehklagen, das Schaben von Steinen, den Klang von Metall
     auf Metall. Irgendwo in weiter Ferne lachte ein Mädchen, er hätte schwören können, dass es so war. Jemand sang, auch das hätte
     er beschwören können.
    Grůnet der walt allenthalben.
    wa ist min geselle also lange?
    der ist geriten hinnen.
    owi! wer sol mich minnen?
    Typische Anzeichen, dachte er. Hunger und Wassermangel zeigen Wirkung. Ich verliere den Verstand. Ich werde verrückt.
    Und plötzlich ereignete sich etwas, das ihn darin bestärkte, dass er schon verrückt geworden war.
    Die gegenüberliegende Wand des Hungerlochs bewegte sich.
    Die Mauerfugen verwandelten sich ganz deutlich, sie bewegten sich wie ein gemustertes Gewebe im Wind. Die Wand blähte sich
     plötzlich auf wie ein Segel und wurde zu einer riesigen, sich rasch vergrößernden Blase. Die Blase zerplatzte, Schleim absondernd.
     Und etwas trat daraus hervor.
    Dieses Etwas war unsichtbar, offensichtlich durch einen Zauber verborgen. Reynevan, der wie versteinert leblos in seiner Ecke
     kauerte, sah aber die Umrisse einer Gestalt, einer durchsichtigen, sich wandelnden Gestalt mit fließenden Bewegungen, wie
     Wasser. Er erriet, warum er überhaupt in der Lage |307| war, etwas zu sehen. Im Loch hingen immer noch die Reste des Zaubers, der von dem Magie ortenden Periapt ausging.
    Die durchsichtige Gestalt hatte ihn nicht bemerkt, sie bewegte sich fließend auf das Skelett des Rupilius zu. Reynevan begriff
     plötzlich mit einer Sicherheit, die ihn fast blendete, dass dies seine einzige Chance sein könnte.
    »Video videndum!«
, rief er, das Amulett in der Hand haltend. »Alef taw!«
    Die Gestalt materialisierte sich so unverhofft, dass es sie schüttelte. Das erleichterte Reynevan die Aufgabe gewaltig. Er
     sprang auf den Ankömmling zu wie ein Luchs, packte ihn und riss ihn zu Boden. Mit ganzer Kraft schlug er ihm in die Rippen.
     Dem Ankömmling entfuhr der Atem, zusammen mit einem hässlichen Wort, Reynevan fasste ihn am Hals. Das heißt, er wollte ihn
     fassen, erhielt aber plötzlich einen Stoß mit dem Kopf gegen sein Gesicht. Obwohl ihm schwarz vor Augen wurde, revanchierte
     er sich mit dem gleichen Stoß, bei dem er sich die Stirn an den Zähnen des anderen verletzte. Der Gestoßene fluchte erneut,
     dann schrie er etwas Unverständliches. Das Magie aufspürende Amulett wirkte von selbst, im Loch wurde es hell. Na klar, dachte
     Reynevan, als er spürte, wie ihn eine schreckliche Kraft vom Boden in die Luft hob. Das ist tatsächlich ein Zauberer. Einer,
     der sich mit Magie auskennt, dachte er, während er flog. Ich habe mich mit einem Magier angelegt, dachte er noch eine Sekunde,
     bevor er mit schrecklicher Wucht gegen die Mauer geschleudert wurde. Er rutschte zu Boden und krümmte sich zusammen, völlig
     unfähig, auch nur irgendetwas zu tun.
    Der Ankömmling stieß ihn mit der Fußspitze an.
    »Lebst du noch?«, fragte er leise.
    Er antwortete nicht.
    »Wer zum Teufel bist du?«
    Er antwortete auch diesmal nicht und krümmte sich nur noch mehr zusammen. Der Ankömmling bückte sich und hob das Amulett vom
     Boden auf.
    |308| »Ein Periapt Visumrepertum«, sagte er mit leichter Verwunderung in der Stimme. »Recht gut gemacht. Und mein Fe-Fiada hast
     du mit Hilfe des Spruches vom wahren Sehen durchschaut   ... Toledo?«
    »Alma   ... Mater   ... Nostra«
, stöhnte Reynevan und betastete Kopf und Nacken. »›Clavis   ... Salomonis‹?«
    »Schon gut, schon gut, das reicht, es geht auch ohne Erklärung. Wer hat dieses Visumrepertum angefertigt? Du?«
    »Teles   ... Jost Dun. Aus Opatovice.«
    »Und Heidelberg«, fügte der Ankömmling lässig hinzu. »Wie geht es ihm?«
    »Es geht ihm gut.«
    Der Ankömmling trat von einem Bein aufs andere. Er war ein Mann in den Vierzigern, nicht groß, dick, breitschultrig und

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