Gottesstreiter
ein Mangel an |706| Selbstbeherrschung kann schwer vorhersehbare unangenehme Folgen haben. Sehr unangenehme Folgen.«
»Für Jutta? Ich verstehe.«
»Du verstehst nicht. Steck dein Schwert weg und hör mich an. Wirst du mir zuhören?«
»Habe ich denn eine andere Wahl? Andernfalls hat es ja unangenehme Folgen. Jutta ist in euren Händen. In eurem Kerker ...«
»Sie ist in keinem Kerker«, unterbrach ihn der Unbekannte. »Keiner wird ihr etwas zuleide tun, keiner wird sie auch nur anrühren,
ihr zu nahe treten oder ihre Ehre verletzen. Jutta de Apolda ist in unserer Obhut. Sie ist isoliert, das wohl ... Mit der Kenntnis und der Zustimmung ihrer Mutter, der Frau Agnes, der Frau Mundschenk von Schönau. Fräulein Jutta befindet
sich an einem sicheren Ort. Verborgen und abgeschottet von den Gefahren dieser Welt. Von einer gewissen Idee, die einst Mayfreda
da Pirovano auf den Scheiterhaufen gebracht hat. Und von dir. Besonders von dir. Und vorläufig wird Fräulein Jutta auch abgeschottet
und verborgen bleiben.«
»Vorläufig?«
»Bis es Zeit ist.«
»Bis es Zeit ist wofür? Wann lasst ihr sie frei?«
»Wenn die Zeit gekommen ist. Und unter gewissen Bedingungen.«
»Also, weiter!«, bellte Reynevan, immer noch vergeblich bemüht, sein Pferd in Bewegung zu setzen. »Zur Sache! Ich höre! Was
sind das für Bedingungen? Wen soll ich diesmal verraten? Wen soll ich verkaufen? Wen dem Tod ausliefern? Und wenn ich tue,
was ihr verlangt, dann gebt ihr mir Jutta zurück, ja? Vielleicht legt ihr auch noch dreißig Silberlinge dazu?«
»Geduld!« Der Unbekannte hob die Hände. »Reg dich nicht auf, galoppier nicht gleich los. Ich habe dir gesagt, was ich sagen
sollte. Jetzt kehre zu deinen Leuten zurück. Zu den Waisen, von denen das Gerücht geht, sie würden geradewegs nach Norden
marschieren und jeden Moment hier eintreffen. Kehre |707| zurück. Und warte auf Nachricht von uns. Hochwürden Hejncze empfiehlt dir, die Worte des Propheten Hosea zu erwägen: Die Wege
des Herrn sind gerade, und die Gerechten wandeln darauf, aber die Sünder kommen auf ihnen zu Fall. Es wird Zeit, dass du aufhörst
zu stolpern, Reinmar von Bielau. Zeit, auf den rechten Weg zurückzukehren. Wir versuchen, dir dabei zu helfen.«
»Ich zweifle keineswegs daran, dass ihr das versucht.«
»Warte auf Nachricht. Wir werden dich finden.«
»Seid ihr so sicher, dass ihr mich findet?«
»Wir werden dich finden.« Der Bote der Inquisition lachte. »Ohne Schwierigkeiten. Du bist wie Majoran. Überall zu finden.
In jedem Essen. Ich heiße Łukas Bożyczko.«
»Ich werde es mir merken.«
Łukas Bożyczko lachte, ihm schien die in Reynevans Stimme mitschwingende Drohung nichts auszumachen. Er warf seinen Mantel
über die Schulter zurück. Wendete seinen Schecken. Gab ihm die Sporen. Und ritt im Galopp auf das Grottkauer Tor zu. Dem mehr
und mehr Flüchtlinge zustrebten.
Reynevan sah ihm noch lange nach. Er war zum Umfallen müde. Aber er wusste, dass er keine Zeit hatte, zu schlafen oder sich
auszuruhen. Er zog die Zügel an und wandte sich in Richtung Frankenstein. Das Pferd schnaubte. Der Weg war voller Leute. Die
Nachricht vom herannahenden Zug der Waisen hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, Schlesien war wieder von Panik erfasst.
Und Jutta befand sich in den Händen der Inquisition.
Im Süden bedeckte sich der Himmel mit Wolken, es wurde kälter, ein Schneegestöber kündigte sich an.
Und noch viel Schlimmeres.
ENDE DES ZWEITEN BANDES
|709| Anhang
Prolog
Africae Terra, ubi sunt leones
: das Land Afrika, wo es Löwen gibt (in dem Sinne: ein Land, das man nicht kennt)
India inferior
: das untere Indien
ubi oriens iungitur aquiloni
: wo sich der Osten mit dem Norden verbindet
Insulas Canarias
: Kanarische Inseln
El Navegador
: der Seefahrer
sanguisugae, polypi, octopodes, locustae, cancri, ... pistrices et huic similia
: Blutsauger, Polypen, Kraken, Langusten, Krebse, ... Haifische und diesem Ähnliches
navigare necesse est
[, vivere non est necesse]: zur See zu fahren, ist notwendig [, zu leben ist nicht notwendig]; ins Allgemeine umgedeutete
lat. Version eines Ausspruches des Pompeius bei Plutarch
Fortunatae Insulae
: glückliche Inseln; Bezeichnung röm. Schriftsteller für die Kanarischen Inseln
quod erat demonstrandum
: was zu zeigen war (in dem Sinne: was zu beweisen war)
Salvatoris omnium
: Des Retters aller (Anfangsworte der Bulle Papst Martins V.)
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