Gottesstreiter
Domarask,
magister scholarum
an der Kollegiatschule des Heiligen Kreuzes in Oppeln. Hab ich den nicht schon irgendwo gesehen? Und wenn ja, wo? In Krakau?
In Dresden? In Troppau?
Hinter dem Fenster erklangen die Stimmen der Schüler, die im Chor Strophen der ›Thebais‹ des Statius rezitierten. Von Zeit
zu Zeit unterbrach Geschrei die Rezitation – der Signator, der die Klasse beaufsichtigte, verbesserte mit Hilfe des Stocks
jemandes Latein und regte auf diese Weise zu Fortschritten beim Lernen an.
Der Gast war hoch gewachsen, schlank, ja geradezu mager, aber man spürte eine unbändige Kraft in ihm. Sein graues Haar trug
er nach der Art der Kleriker, das Filzkäppchen bedeckte, darauf hätte Wendel Domarask eine Wette abschließen können, eine
Tonsur oder was davon übrig war. Der Besucher hätte auch – der Magister wäre bereit gewesen, auch darauf zu wetten – wie ein
Mönch den Blick senken, gehorsam den Kopf neigen, die Hände falten und ein Gebet murmeln können. Hätte er. Wenn er gewollt
hätte. Jetzt wollte er dies offensichtlich nicht. Er sah dem Magister direkt in die Augen.
Die Augen des Besuchers waren sehr seltsam. Sie beunruhigten durch ihren starren Blick, der tausende von Ameisen im Nacken
und im Rücken zum Leben erweckte. Aber das Seltsamste war ihre Farbe – sie waren eisenfarben, hatten die Farbe |141| einer alten, dunkel angelaufenen ausgemusterten Messerklinge. Diesen naturalistischen Eindruck verstärkten farbige Flecke
auf der Iris, sie wirkten so, als hätte sich dort Rost angesetzt.
Ecce sub occiduas versae iam Noctis habenas / astrorumque obitus, ubi primum maxima Tethys / imu ... impulit ...
Aua! Au Jesses!
Wendel Domarask,
magister scholarum
an der Kollegiatschule des Heiligen Kreuzes in Oppeln und Hauptresident des taboritischen Geheimdienstes, Chef und Koordinator
des Agentennetzes in Schlesien in einer Person, seufzte leise. Er wusste, wer der Besucher war, man hatte ihn benachrichtigt,
dass dieser bei ihm auftauchen werde. Er wusste, auf wessen Befehl sein Besucher gekommen war und wessen Autorität er repräsentierte.
Er wusste, welche Vollmachten dieser hatte, wusste, dass dieser das Recht hatte zu befehlen, er wusste auch, was ihm blühte,
wenn er einen Befehl nicht ausführte. Mehr wusste Domarask nicht. Sonst nichts. Vor allem nicht, welchen Namen der Ankömmling
trug.
»Ach ja, werter Herr«, sagte er, sich endlich zu dieser gleichermaßen höflichen wie neutralen Form der Anrede aufraffend.
»Wir haben es hier in Schlesien in letzter Zeit nicht leicht. Oh, wahrhaftig nicht leicht ... Ich sage das nicht zu Euch, weil ich mich vor den Aufgaben drücken oder meine Untätigkeit rechtfertigen will, nein, was
das anbelangt, gewiss nicht, ich bemühe mich sehr, da kann Bruder Prokop sicher sein ...«
Er vestummte. Der eiserne Blick des Besuchers hatte, wie sich zeigte, auch die seltsame Fähigkeit, den Redefluss zu hemmen.
»Im Februar des vergangenen Jahres«, Wendel Domarask ging jetzt zu kürzeren und konziseren Aussagen über, »ist, wie Ihr sicher
wisst, die Union von Strehlen entstanden. Die schlesischen Herzöge, die Starosten und die Ratsherren von Breslau, Schweidnitz,
Jauer und Glatz. Ihr Ziel ist es, eine Armee aufzustellen, um gegen Böhmen zu ziehen. Und zuvor die Zerschlagung |142| der böhmischen Netzwerke in Schlesien.« Der Besucher nickte, als Zeichen, dass er dies wusste. Aber die eisenfarbenen Augen
veränderten ihren Ausdruck nicht.
»Sie haben uns empfindlich getroffen«, fuhr der Agent gleichmütig fort. »Die bischöfliche Inquisition, die Gegenspionage von
Albrecht von Kolditz und Puta von Czastolovice. Die Äbte von Heinrichau, Kamenz und Grüssau. Im Herbst haben sie den Schweidnitzer
Residenten und ein paar von unseren Leuten in Breslau gefasst. Irgendjemanden haben sie zum Reden gebracht, oder es hat uns
einer verraten, denn schon am zweiten Adventssonntag haben sie eine Gruppe in Jauer ausgehoben. Im Winter ist die Mehrzahl
der Agenten aus der Region Neisse verhaftet worden. Und in diesem Jahr vergeht kein Monat, ohne dass ihnen nicht einer ins
Netz geht ... Oder dass sie nicht einen umbringen. Der Terror breitet sich aus. Sympathisanten werden umgebracht. Leute, die mit uns
zusammenarbeiten, werden getötet, Kaufleute ... Angst ist über die Menschen gekommen. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, neue Agenten anzuwerben oder sich irgendwo
einzuschleichen, das
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