Gottesstreiter
vor ihren Augen zu wachsen begann. Seine Gestalt veränderte.
Ein Mensch wurde.
Und dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Eine Katze miaute laut. Und aus dem Dunkel der Nacht löste sich ein riesiger Wolf.
Der Wolf wurde schneller, rannte plötzlich los und setzte dann zum Sprung an. Aber der Mauerläufer war schon wieder zum Vogel
geworden, seine Menschengestalt löste sich auf, er wurde zusehends kleiner, schlug mit den Flügeln und schwang sich vom Boden.
Er kreischte triumphierend auf, als die glitzernd weißen Zähne des Wolfes zuschnappten, ohne jedoch den Schwanz des Vogels
dicht hinter den Steuerfedern zu erwischen. Der Wolf landete weich und jagte sogleich ins Dunkel davon, dem wegfliegenden
Vogel hinterher.
Elencia erhaschte die Katze und lief davon. Die Tränen gefroren auf ihren Wangen.
Der eiserne Wolf jagte wie jeder gewöhnliche Wolf, er schnürte in schnellem, gleichmäßigem, ausdauerndem Lauf dahin. Von Zeit
zu Zeit hob er die Nase und hielt sie witternd in den Wind, mit dem der Mauerläufer davonflog und der von Magie durchdrungen |202| war. Die Augen des Tieres funkelten in der Dunkelheit.
Die Verfolgung ging weiter, der tödliche Wettlauf dauerte an. Über die Nimptscher Höhe, durch die Täler der Ohle, der Lohe
und der Weistritz.
Die Kinder erwachten davon in ihren Wiegen, schrien und würgten an ihren Tränen. Die Pferde in den Ställen wurden wild. Das
Hornvieh stampfte in den Kuhställen.
Aus einem Albtraum geweckt, fuhr der Ritter in seiner steinernen Feste auf. Dem sein
Nunc dimittis
murmelnden Dorfpfarrer fiel das Brevier aus den zitternden Händen. Die Waffenknechte auf den Wachtürmen rieben sich die Augen.
Die Verfolgung ging weiter. Ihr voraus jagte, wie ein sie ankündigender Läufer, das Grauen. Hinter ihr nistete sich die Furcht
ein wie Staub.
Ganz in der Nähe befand sich eine uralte Kultstätte, ein flacher Bergrücken, und darauf ein aus behauenen Felssteinen geformter
magischer Sonnenkreis, in dem früher zu Göttern gebetet wurde, die älter waren als die Welt. Zugleich eine Begräbnisstätte,
ein Friedhof, eine Nekropole für Menschen und Nichtmenschen, deren Namen längst im Dunkel der Zeiten vergangen waren. Im Jahre
1150 hatte man während des Kampfes gegen Heidentum und Aberglauben jene Felssteine zerstreut, und an ihrer Stelle war auf
Geheiß des Bischofs Walther von Malonne ein hölzernes Kirchlein oder, besser gesagt, ein Kapellchen errichtet worden, denn
die Gegend war immer noch eine Wildnis.
Das Kapellchen hatte kein Jahr überdauert, ein Blitzschlag hatte es in Brand gesetzt. Das aus gleichen oder ähnlichen Gründen
entstehende Feuer vernichtete auch alle anderen Kapellen, die auf der alten Nekropole errichtet worden waren. Dieser Kampf
währte an die zwanzig Jahre, bis zum Tode Bischof Walthers. Das Volk begann zu flüstern, dass man sich mit den alten Göttern
besser nicht anlegen solle, und der neue Bischof, Żyros ław, fällte die einzig richtige Entscheidung: Für |203| den Bau des nächsten Gotteshauses wählte er einen neuen, entfernten Platz, schöner und günstiger gelegen und überhaupt viel,
viel besser. Den Frieden der neuen Kirche störte niemand mehr, und sie zog viele Gläubige an, auf dem alten Friedhof hingegen
legten unsichtbare Hände die Kultsteine wieder an ihren angestammten Platz. Im Laufe der Zeit umgab ein Kreis aus sonderbar
geformten, skelettartigen Bäumen den Platz und an manchen Stellen eine ineinander verflochtene, mit mörderischen Stacheln
bewehrte Hecke aus Schlehen.
Der Ort lag vom Mondlicht übergossen da.
Der herantrabende Wolf erreichte die ersten Steine und die Barriere aus Schlehen, wurde plötzlich langsamer, sein Fell sträubte
sich. Er nahm den modrigen Geruch des Friedhofs wahr, der immer noch über der Anhöhe lag, obwohl hier schon seit Jahrhunderten
keine Toten mehr begraben wurden. Er spürte die Schichten uralter Magie, die sich hier über Jahrhunderte hinweg angesammelten
hatten, die Wesen, über die ein Zauber geworfen war, der den Zutritt verwehrte. Seine Konturen verschwammen, er wechselte
seine Gestalt. Er wurde wieder Mensch. Ein hoch gewachsener Mensch mit eisenfarbenen Augen.
Die kalte Nachtluft schien zu erstarren. Nicht ein einziges dürres Blatt, nicht ein einziges Riedgras bewegte sich. Die Stille
dröhnte einem förmlich in den Ohren.
Sie wurde unterbrochen durch das Hallen von Schritten, ein leises Knirschen von Kies. Zwischen
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