Gottesstreiter
»hat eine ganze Reihe von eigenartigen
Narren und Verrückten aus dem Dunkel hervorgelockt und genährt. 1419 wurde das Land von einer Welle religiöser Hysterie, religiösem
Wahn und Mystizismus überrollt. Überall rannten Propheten herum, die eine Vision gehabt haben wollten und mit dem Untergang
der Welt drohten. Die Leute ließen alles stehen und liegen und zogen in hellen Scharen auf die Berge, wo sie auf die zweite
Ankunft Christi warteten. Alte, halb vergessene Sekten fanden jetzt einen Nährboden für ihre Lehren. Aus allen dunklen Ecken
krochen gottverdammte |216| Chiliasten, Adventisten, Nikolaiten, Paternianer, Spiritualen, Waldenser, Begarden, weiß die Pest, wer noch, hervor, man konnte
sie gar nicht mehr alle zählen ...«
Am Spieltisch entbrannte eine heftige Diskussion, Worte flogen hin und her, darunter auch Schimpfwörter. Am lautesten fluchte
Manfred von Salm.
»Na, und dann ging es los. Predigten. Prophezeiungen. Vorhersagen. Wahrsagerei und Apokalypsen. Dass das dritte Zeitalter
herannahe und die alte Welt im Feuer untergehen müsse, bevor dieses komme. Dann erscheine Christus in all seiner Glorie, das
Königreich Gottes entstehe, die Auferstehung werde gefeiert, die Bösen gingen unwiderruflich in die ewige Verdammnis ein,
und die Guten würden in paradiesischer Glückseligkeit leben. Alles gehöre allen gemeinsam, jegliches Eigentum verschwinde.
Es gebe keine Reichen und Armen mehr, kein Elend und keine Unterdrückung. Auf Erden herrsche ein Zustand allgemeiner Vollkommenheit,
des Glückes und des Friedens. Es gebe kein Unglück, keinen Krieg und keine Verfolgung mehr. Es werde keinen mehr geben, der
einen anderen überfalle oder ihn zur Sünde verleite. Oder dessen Weib begehre. Denn auch die Weiber seien zum allgemeinen
Gebrauch bestimmt.«
»Was soll’s, die Welt ist, wie wir alle wissen, nicht untergegangen, Christus ist nicht auf die Erde zurückgekehrt, die Leute
sind wieder zur Vernunft gekommen, und die Chiliasten und Adventisten haben ihre Anhänger verloren. Die Träume von Gleichheit
sind verweht, auch jene von der Beseitigung jedweder Macht und jeglichen Zwanges. Das revolutionäre Tábor hat die staatliche
Organisation wiederhergestellt und schon im Herbst 1420 begonnen, Steuern und Abgaben einzutreiben. Unter Zwang, versteht
sich. Auch die kirchlichen Institutionen wurden wiedererrichtet, wie taboritische zwar, aber immerhin Institutionen. Der hussitische
Bischof Nikolaus von Pelhrimov, der an der Spitze dieser Institutionen stand, hat von der Kanzel aus den Kanon des wahren
Glaubens |217| verkündet und diejenigen, die diesen Kanon nicht respektierten, als Abtrünnige und Häretiker bezeichnet. Auf diese Weise haben
die Hussiten, die größten Ketzer Europas, ihre eigenen Ketzer und Dissidenten geschaffen. Die Pikarden.«
»Der Name scheint sich, abgewandelt, von dem der Begarden herzuleiten«, warf Reynevan ein.
»Das meinen viele«, Tauler nickte, »aber wahrscheinlicher ist, dass es um die Picardie und um die Waldenser ging, die von
dort im Jahre 1418 eingewandert sind, weil sie hier in Böhmen Asyl fanden und unerhörten Zulauf hatten. Die Bewegung nahm
an Stärke und Anzahl ihrer Anhänger zu, an ihrer Spitze stand der Mähre Martin Húska, den man aufgrund seiner Eloquenz Loquis
nannte. Sie einfach Radikale zu nennen, genügt bei weitem nicht. Sie riefen dazu auf, die Gotteshäuser zu stürmen, sie behaupteten,
die wahre Kirche Gottes sei eine pilgernde Kirche. Die Eucharistie lehnten sie vollständig ab. Alle eucharistischen Gegenstände
betrachteten sie als nichtig, zerstörten jede Monstranz und jede Hostie, die ihnen in die Finger kam. Gott, so verkündeten
sie, sei alles, was lebe,
ergo
sei der Mensch auch ein Gott. Die Kommunion könne ein jeder erteilen, behaupteten sie, und man könne sie in jeglicher Gestalt
empfangen. Mit dieser Behauptung setzten sie den Calixtinern empfindlich zu. Wie, tobten jene, Hus hat sich verbrennen lassen,
wir vergießen Blut für die Kommunion
sub utraque specie
mit Brot und Wein, und da kommt so ein Loquis daher und erteilt sie in Form von Grütze, Erbsen oder saurer Milch?«
Samson in seiner Ecke schnitt eifrig an seinem Stöckchen, unter der Schneide seines Messers ringelten sich schöne, lange Späne.
»Im Februar 1421 hatte man von diesen Sektierern endlich die Nase voll. Sie wurden aus Tábor vertrieben, und man befahl ihnen,
sich fortzumachen. An die
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