Gotteszahl
Weise eine Hilfe war.
Ein Mann
Nichts half.
Nichts würde jemals helfen. Sie hatten ihm angeboten, ihm Gesellschaft zu leisten, natürlich. Als ob er das gebraucht hätte. Als ob das Leben auch nur für einen Moment erträglicher würde, weil fremde Menschen bei ihm saßen, in ihrem Sessel; in dem gelben abgenutzten Sessel, der schräg vor dem Fernseher stand, mit einer halb fertigen Strickarbeit in einem geflochtenen Korb daneben.
Sie hatten gefragt, ob er jemanden hätte.
Einmal hatte er jemanden gehabt. Vor wenigen Stunden hatte er Eva Karin gehabt. Ein ganzes Leben lang hatte er Eva Karin gehabt, und jetzt hatte er niemanden.
Der Sohn, erinnerten sie ihn. Sie fragten nach dem Sohn. Ob er Lukas selbst verständigen wolle, oder ob sie sich darum kümmern sollten. So drückte sie sich aus, die Frau, die sich in Eva Karins Sessel gesetzt hatte. Sich darum kümmern. Als ob es eine Sache wäre. Als ob es noch etwas gäbe, worum man sich kümmern könnte.
Er empfand keinen Schmerz.
Schmerz tat weh. Schmerz schmerzte. Alles, was er jetzt verspürte, war das Fehlen von Existenz. Ein Leerraum, der ihn dazu brachte, seine Hände anzustarren wie die eines anderen. Er ballte die rechte Faust so fest, dass die Nägel sich in die Handfläche bohrten. Es gab nirgendwo Schmerz, keine Anwesenheit, nur ein großes Nichts, in dem Eva Karin nicht mehr war.
Sogar Gott hatte ihn verlassen, das begriff er jetzt.
Die Zeit hatte aufgehört zu vergehen.
Ihre Uhr war stehen geblieben. Gereizt schüttelte sie den Arm, aber es half nichts, sie war viel zu spät dran. Sie musste die Kinder ins Haus holen und ihnen die guten Sachen anziehen, ohne dass Kristiane sich querstellte.
Sie ging zum Fenster.
Auf dem Rasen vor dem Haus, am Zaun zum Hauges vei, hatten Ragnhild und Kristiane genug Reif zusammengescharrt, um den kleinsten Schneemann aller Zeiten zu bauen. Er war knapp zehn Zentimeter hoch, aber selbst aus dem ersten Stock konnte Inger Johanne erkennen, dass er ein Eichenblatt als Hut trug und einen Mund aus winzigen Steinen hatte.
Inger Johanne verschränkte die Arme und lehnte sich an den Fensterrahmen. Wie üblich war es Ragnhild, die baute und Anweisungen erteilte, Kristiane stand still daneben. Auch wenn Inger Johanne von hier oben kein Wort verstehen konnte, hörte sie doch, dass die jüngere Tochter drauflos plapperte, als hätte sie die interessierteste Zuhörerin der Welt.
Vielleicht war es ja so.
Inger Johanne lächelte, als Ragnhild sich plötzlich von ihrem kleinen Kunstwerk erhob und aus voller Kehle zu singen begann. Ihre Stimme war bis hier oben zu hören. »Ohne Liebe gibt’s kein Leben«, sang das Kind durch die ganze Nachbarschaft, wo immer sie dieses Lied aufgeschnappt haben mochte. Dass es zum Richtfest für einen Schneemann ertönte, musste jedenfalls Kristianes Vorschlag gewesen sein.
Eine Gestalt erregte Inger Johannes Aufmerksamkeit. Ein Mann, wie es aussah, und Inger Johanne war sich nicht sicher, woher er gekommen war. Er schien auch nicht so recht zu wissen, wohin er wollte. Aus irgendeinem Grund machte es sie nervös. Natürlich gab es Kinder in der Nachbarschaft, die ab und zu aus dem Nichts auftauchten, aber Erwachsene, die durch die Wohngegend liefen, hatten immer ein Ziel. Die meisten kannte sie nach all den Jahren in der kleinen Seitenstraße.
Der Mann schlenderte dahin, die Hände in den Taschen. Er hatte sich die Mütze tief in die Augen gezogen und den Schal so oft um den Hals gewickelt, dass der untere Teil seines Gesichts verborgen war. Etwas an seinem Gang sagte ihr, dass er nicht ganz jung war.
Wieder schüttelte sie den linken Arm. Die Uhr stand noch immer, es lag wohl an der Batterie. Bestimmt mussten sie sich beeilen. Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als der Mann bei den Mülltonnen stehen blieb.
Bei ihren Mülltonnen.
Inger Johanne spürte, wie die Furcht in ihr aufstieg, wie das immer geschah, wenn sie nicht die volle Kontrolle über Kristiane hatte. Für einen Moment blieb sie stehen, ohne zu wissen, ob sie nach unten stürzen oder die Lage weiter beobachten sollte. Ohne wirklich eine Entscheidung getroffen zu haben, blieb sie stehen.
Vielleicht rief er die beiden.
Jedenfalls sahen beide Mädchen den Mann an, und obwohl Ragnhild mit dem Rücken zu ihr stand, verrieten die Armbewegungen, dass sie mit ihm redete. Er gab irgendeine Antwort und winkte sie zu sich. Keins der Mädchen ging auf ihn zu. Ragnhild trat stattdessen einen Schritt zurück.
Inger Johanne
Weitere Kostenlose Bücher