Gottspieler
Gang hinunter zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Sie wußte, wie sehr er sein Arbeitszimmer liebte, das fast identisch mit seinem Büro in der Klinik war – die gleichen waldgrünen Wände, der gleiche echte Chippendale-Schreibtisch, der gleiche kostbare Teppich. Lediglich der Blick auf die Garage und die Salzdünen dahinter war anders. Allerdings behagte es ihr nicht, daß Thomas anfing, immer mehr Zeit dort zu verbringen und gelegentlich sogar auf der Couch übernachtete. Sie hatte nichts dazu gesagt, denn sie wußte, daß er an Schlaflosigkeit litt. Aber diese Nächte wurden zunehmend häufiger, und sie lag allein im Bett und sorgte sich.
Das Hauptschlafzimmer lag ganz am anderen Ende des Gangs auf der nordöstlichen Seite des Hauses. Französische Türen führten auf einen Balkon, von dem aus man einen überwältigenden Blick auf den Rasen und die See hatte. Neben dem Schlafzimmer lag ein Frühstückszimmer, das nach Osten hinausging. An schönen Tagen strömte die Sonne durch die Fenster bis in das Badezimmer, das zwischen den beiden Räumen lag.
Der einzige Teil des Hauses, den Cassi neu eingerichtet hatte, war die Schlafzimmer-Suite. Die weißen geflochtenen Verandamöbel, die sie schmählich verlassen in der Garage gefunden hatte, waren gerettet und repariert worden. Dazu passend hatte sie Decken, Sitzkissen und Vorhänge aus hellem Chintz ausgesucht. Die Schlafzimmerwände waren in viktorianischem Stil mit senkrechten Streifen tapeziert, die des Frühstückszimmers in blassem Gelb gestrichen worden. Die Kombination war leuchtend und fröhlich und stand in scharfem Kontrast zu den dunklen und schweren Tönen im Rest des Hauses.
Mittlerweile diente der Frühstücksraum Cassi als Arbeitszimmer, da Thomas nicht die geringste Neigung gezeigt hatte, ihn mit ihr gemeinsam zu benutzen. Im Keller hatte sie einenalten Bauernschreibtisch gefunden und weiß gestrichen, der zusammen mit ein paar ebenfalls weiß gestrichenen Bücherregalen aus Kiefernholz fast das einzige Mobiliar darstellte. Einem der Bücherschränke war noch eine zusätzliche Aufgabe zugedacht; er diente dazu, einen kleinen Kühlschrank zu verbergen, in dem Cassi ihre Medizin aufbewahrte.
Nachdem sie ihren Urin ein weiteres Mal untersucht hatte, ging Cassi zu diesem Kühlschrank und nahm eine Ampulle normales Insulin und eine mit Insulin Lente heraus. Dann zog sie eine Spritze bis zur Hälfte mit zehn Kubikzentimeter U100 und zur Hälfte mit weiteren zehn Kubikzentimeter U100 Lente auf. Da sie sich am Morgen die Spritze in den linken Oberschenkel gesetzt hatte, entschied sie sich jetzt für eine Stelle am rechten Oberschenkel. Die ganze Prozedur nahm nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch.
Nach einem kurzen Duschbad klopfte sie an die Tür von Thomas’ Arbeitszimmer. Als sie eintrat, merkte sie sofort, daß seine Spannung nachgelassen hatte. Er war gerade in ein frisches Hemd geschlüpft und knöpfte es zu, wobei er am Ende mehr Knöpfe als Knopflöcher übrigbehielt.
»Du bist mir ja ein Chirurg«, zog Cassi ihn auf, während sie ihm beisprang und das Problem in Sekundenschnelle gelöst hatte. »Ich habe heute einen jungen Arzt getroffen, auf den du gestern nacht einen unerhörten Eindruck gemacht hast. Ich bin froh, daß er dich nie beim Anziehen gesehen hat.«
»Wer war das?« fragte Thomas.
»Du hast ihm bei einem Wiederbelebungsversuch geholfen.«
»Dann kann der Eindruck ja nicht so unerhört gewesen sein. Der Mann ist gestorben.«
»Ich weiß«, sagte Cassi. »Ich war heute vormittag bei der Autopsie dabei.«
Thomas setzte sich auf die Couch und fuhr in seine Hausschuhe.
»Wieso um alles in der Welt schaust du dir eine Autopsie an?« fragte er.
»Weil es sich um einen postoperativen Todesfall mit ungeklärter Ursache handelte.«
Thomas stand auf und begann sich das nasse Haar zu kämmen. »Hat die ganze psychologische Abteilung diesem Schauspiel beigewohnt?«
»Natürlich nicht«, sagte Cassi. »Robert hat mich angerufen und gebeten …«
Sie hielt inne. Bei der Erwähnung von Robert war ihr das Gespräch wieder eingefallen, das sie im Auto geführt hatten. Glücklicherweise fuhr Thomas fort, sich zu kämmen.
»Er meinte, daß wir es vielleicht mit einem weiteren Fall aus der PPT-Serie zu tun hätten. Du erinnerst dich doch, ich habe dir schon einmal davon erzählt.«
»Plötzlicher Postoperativer Tod«, rezitierte Thomas wie auf die Frage einer Lehrerin.
»Und er hatte recht«, fuhr Cassi fort. »Es gab keine klar zutage
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