Gottspieler
Arbeitszimmer auf und ab und konnte seinen Ärger nur schwer unterdrücken. Nach einem harten, frustrierenden Tag in der Klinik mußte er sich in seinem eigenen Haus auch noch maßregeln lassen wie ein Schuljunge. Und statt zu ihm zu halten, blieb Cassi unten bei seiner Mutter! Einen Moment lang erwog er, in die Klinik zurückzufahren und nach Mr. Campbells Tochter zu sehen. Sie würde ihm Respekt erweisen und alles für ihn tun, wie sie es ihm ins Ohr geflüstert hatte.
Aber der kalte Regen, der gegen das Fenster trommelte, ließ den Gedanken nicht sehr verlockend erscheinen. Also griff er lediglich nach einer Zeitschrift, die ganz oben auf dem Turm von Büchern und Heften neben seinem Schreibtisch lag, und ließ sich in den burgunderfarbenen Ledersessel vor dem Kamin fallen.
Er versuchte zu lesen, aber seine Gedanken irrten immer wieder ab. Er fragte sich, warum seine Mutter ihn nach all den Jahren immer noch so aufregen konnte. Dann dachte er an Cassi und die PPT-Reihe, an der sie mit Robert Seibert gearbeitet hatte. Er war überzeugt, daß eine solche Studie nicht geradedie beste Wirkung auf das öffentliche Bild der Klinik haben würde. Er wußte vor allem, daß es Robert lediglich darum ging, seinen Namen gedruckt zu sehen. Wen er dabei verletzte, war ihm völlig gleichgültig.
Thomas warf das Journal ungelesen beiseite und ging in das kleine Badezimmer nebenan. Er starrte in den Spiegel und musterte seine Augen. Er hatte immer geglaubt, jünger auszusehen, als er war, aber heute ließ sich das nicht gerade behaupten. Seine Augen hatten dunkle Ringe, und die Lider waren rot und geschwollen.
Er ging zurück ins Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die zweite Schublade von oben. Er nahm ein beiges Plastikdöschen heraus, schob sich eine gelbe Pille in den Mund und nach einem kurzen Zögern eine zweite. An der kleinen Bar neben der Tür zum Bad schenkte er sich einen Whisky ein, ehe er sich wieder in den Ledersessel setzte, der einmal seinem Vater gehört hatte. Kurz darauf spürte er bereits, wie seine Anspannung nachließ. Wieder griff er nach der Zeitschrift und versuchte zu lesen.
Aber er vermochte sich noch immer nicht zu konzentrieren. Er erinnerte sich daran, wie er in seiner ersten Woche als Chefarzt in der Herzchirurgie mit dem Problem konfrontiert worden war, daß zwei Oberärzte für ihre Patienten freie Betten auf der Intensivstation brauchten, die Station aber voll belegt war. Ohne freie Betten kam der gesamte chirurgische Kreislauf zum Stillstand.
Thomas erinnerte sich, wie er in die Intensivstation gegangen war und jeden Patienten genau untersucht hatte, um zu sehen, ob einer von ihnen verlegt werden konnte. Schließlich entschied er sich für zwei »Zombies« – Patienten, die im Koma lagen und nie wieder daraus erwachen würden. Sicher, sie brauchten rund um die Uhr Spezialbetreuung, die nur auf der Intensivstation gewährleistet werden konnte; genauso sicher aber war, daß sie nie wieder genesen würden. Doch als er anordnete, sie zu verlegen, wurden ihre Ärzte leichenblaß, und das Pflegepersonal weigerte sich, den Befehl auszuführen. Thomas wußte noch genau, wie gedemütigt er sich vorgekommen war, als das Pflegepersonal die Oberhand behalten hatte und die beiden Gehirntoten auf der Intensivstation geblieben waren. Außer ihm schien niemand zu verstehen, daß eine Operation, genauso wie die teure Unterbringung auf der Intensivstation, für Patienten gedacht war, die genesen würden, nicht für die lebenden Toten.
Er ging zur Bar und schenkte sich Whisky nach. Das Eis war geschmolzen, es hatte den Scotch verdünnt und sein Aroma abgeschwächt. Beim Blick auf den burgunderfarbenen Ledersessel fiel Thomas sein Vater ein, der Geschäftsmann. Er fragte sich, was der alte Mann wohl von ihm gehalten hätte, wäre er noch am Leben. Die Antwort darauf fiel nicht leicht, denn wie seine Frau Patricia hatte auch Kingsley senior nie ein Wort der Anerkennung ausgesprochen und war statt mit Unterstützung immer schnell mit Kritik bei der Hand gewesen. Ob Cassi ihm gefallen hätte? Thomas vermutete, daß sein Vater wahrscheinlich nicht sehr viel von einem Mädchen mit Diabetes gehalten hätte.
Seit Thomas vom Tisch aufgestanden und in sein Arbeitszimmer gegangen war, konnte Cassi kaum noch stillsitzen. Nachdem er schon vorher schlechte Laune gehabt hatte, fürchtete sie, daß er jetzt wie ein gefangener Tiger auf und ab ging und schäumte. Verzweifelt versuchte sie, sich
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