Grab im Wald
meinte. »Also komme ich am besten gleich auf den Punkt.«
Mr Perez’ Augen verengten sich. Mrs Perez’ Griff an der Handtasche wurde fester. Ich überlegte kurz, ob das noch die gleiche Handtasche wie vor fünfzehn Jahren sein konnte. Schon seltsam, wohin die Gedanken ins solchen Augenblicken abschweifen.
»Gestern wurde in Manhattan bei den Washington Heights ein Mord verübt«, sagte York. »Wir haben in einer Gasse in der Nähe der 157th Street eine Leiche gefunden.«
Ich wandte den Blick nicht von ihren Augen ab. Die Perez’ zeigten keine Reaktion.
»Das Opfer ist männlich und zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt. Er ist ein Meter zweiundsiebzig groß und wiegt sechsundsiebzig Kilo.« Detective York sprach in professionellem Tonfall. »Der Mann hat einen falschen Namen benutzt, daher haben wir Probleme mit der Identifizierung.«
York brach ab. Die klassische Technik. Er hoffte darauf, dass sie etwas sagten. Mr Perez sprang darauf an. »Ich verstehe nicht, was das mit uns zu tun hat.«
Mrs Perez sah ihren Mann an, rührte sich ansonsten jedoch nicht.
»Dazu komme ich noch.«
Man sah förmlich, dass York überlegte, wie er vorgehen sollte, ob er mit den Zeitungsartikeln anfing, die der Tote in der Tasche gehabt hatte, mit dem Ring oder ob er einen ganz anderen
Einstieg wählen sollte. Ich konnte mir vorstellen, wie er ein paar Sätze im Kopf ausprobierte und merkte, wie idiotisch sie klangen. Zeitungsartikel, Ringe, solche Dinge hatten eigentlich nichts zu bedeuten. Plötzlich fing ich selbst an zu zweifeln. Wir saßen hier und warteten darauf, dass die Welt der Perez’ wie bei einem geschlachteten Kalb von innen nach außen gestülpt wurde. Ich war froh, dass ich hinter der Glasscheibe saß.
»Wir hatten einen Zeugen zur Identifikation der Leiche einbestellt«, fuhr York fort. »Dieser Zeuge glaubt, dass es sich bei dem Opfer um Ihren Sohn Gil handelt.«
Mrs Perez schloss die Augen. Mr Perez erstarrte. Einen Augenblick lang rührte sich niemand. Alle schwiegen. Mr Perez sah seine Frau nicht an. Sie sah ihn nicht an. Beide saßen nur stocksteif da. Die Worte schienen ewig im Raum zu hängen.
»Unser Sohn wurde vor zwanzig Jahren ermordet«, sagte Mr Perez schließlich.
York nickte.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie seine Leiche endlich gefunden haben?«
»Nein, auf keinen Fall. Ihr Sohn war achtzehn, als er verschwunden ist, oder?«
»Fast neunzehn«, sagte Mr Perez.
»Dieser Mann – das Opfer –, den ich gerade erwähnt habe, ist vermutlich Ende dreißig.«
Mr Perez lehnte sich zurück. Die Mutter hatte sich noch immer nicht bewegt.
York nutzte die Stille. »Die Leiche Ihres Sohnes ist nie gefunden worden, richtig?«
»Wollen Sie damit sagen … ?«
Mr Perez’ Stimme erstarb. Keiner nahm den Faden auf und sagte: »Ja, genau das wollen wir damit sagen – Ihr Sohn Gil ist die letzten zwanzig Jahre am Leben gewesen und hat Ihnen und
auch keinem anderen etwas davon gesagt, und jetzt, wo Sie kurz davor stehen, ihren vermissten Sohn wiederzusehen, ist er ermordet worden. Das Leben ist ein echter Brüller, was?«
Mr Perez sagte: »Das ist doch verrückt.«
»Ich weiß, wie sich das für sie anhören muss …«
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass es unser Sohn ist?«
»Wie ich schon sagte, haben wir einen Zeugen.«
»Wen?«
Das waren Mrs Perez erste Worte. Fast wäre ich in Deckung gegangen.
York versuchte, sie zu beruhigen. »Hören Sie, ich verstehe ja, dass Sie erschüttert sind …«
»Erschüttert?«
Wieder der Vater.
»Verstehen Sie das wirklich? Können Sie sich vorstellen, wie …?«
Wieder erstarb seine Stimme. Seine Frau legte ihm die Hand auf den Unterarm. Sie setzte sich etwas aufrechter hin. Sie sah kurz zum Spiegel, und ich hatte den Eindruck, dass sie mich dadurch gesehen hatte. Dann sah sie York in die Augen und sagte: »Ich gehe davon aus, dass die Leiche hier ist.«
»Ja, Ma’am.«
»Und deshalb haben Sie uns auch hergebracht. Wir sollen sie ansehen und feststellen, ob es unser Sohn ist.«
»Ja.«
Mrs Perez stand auf. Ihr Mann sah sie an. Er wirkte hilflos und klein.
»Okay«, sagte sie. »Dann machen wir das doch.«
Mr und Mrs Perez gingen den Flur entlang.
Ich folgte ihnen in angemessenem Abstand. Dillon war bei mir. York begleitete die Eltern. Mrs Perez schritt mit hoch erhobenem
Kopf voran. Sie hatte die Handtasche immer noch fest an sich gepresst, als fürchtete sie, ein Dieb könnte sie ihr entreißen. Sie ging einen Schritt
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