Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
vor ihrem Mann. Es ist extrem sexistisch, wenn man denkt, dass es eigentlich umgekehrt sein müsste, dass die Mutter bei einer solchen Nachricht zusammenklappt und der Vater vorgeht. Im anfänglichen »Showteil« war Mr Perez der Starke gewesen, jetzt, wo die Bombe geplatzt war, übernahm Mrs Perez die Führung, während ihr Mann mit jedem Schritt weiter in sich zusammensackte.
    Den Behördencharakter des Flurs mit dem ausgetretenen Linoleumfußboden und den rauen Betonwänden hätte man allenfalls noch dadurch verstärken können, dass man ein paar gelangweilte Bürokraten mit Kaffeebechern an die Wand gelehnt hätte. Die Schritte hallten zwischen den kahlen Wänden. Mrs Perez trug schwere Goldarmbänder. Sie klimperten im Takt der Schritte.
    Als sie vor dem Fenster, an dem ich gestern gestanden hatte, angekommen waren, streckte Dillon die Hand zur Seite und hielt sie mir vor die Brust, als ob ich ein Kind auf dem Beifahrersitz wäre, das er bei einem scharfen Bremsmanöver schützen wollte. Wir waren gut zehn Meter von York und den Perez’entfernt und traten etwas zur Seite, so dass wir nicht direkt in ihrem Blickfeld standen.
    Mr und Mrs Perez standen nebeneinander. Von ihren Gesichtern konnte ich so gut wie nichts sehen. Sie berührten sich nicht. Mr Perez senkte den Kopf. Er trug einen blauen Blazer. Mrs Perez hatte eine dunkle Bluse an, deren Farbe mich an getrocknetes Blut erinnerte. Sie trug viel Goldschmuck. Ich beobachtete, wie eine andere Person als gestern – heute war es ein großer, bärtiger Mann – die Bahre zum Fenster schob. Die Leiche war noch mit dem Laken bedeckt.
    Als die Bahre richtig stand, sah der bärtige Mann York an. Der nickte. Vorsichtig schlug der Mann das Laken zurück, als
ob etwas Zerbrechliches darunter läge. Ich wollte kein Geräusch machen, lehnte mich aber trotzdem etwas weiter nach links. Ich wollte etwas von Mrs Perez’ Gesicht sehen, wenigstens im Profil.
    Ich habe einmal etwas über Folteropfer gelesen, die sich das Weinen mit aller Macht verkneifen, weil sie zumindest irgendetwas unter Kontrolle haben wollen. Also kämpfen sie darum, nicht einfach loszuheulen, das Gesicht nicht zu verziehen, sich nichts anmerken zu lassen, um ihren Peinigern auch nicht einen Hauch von Genugtuung zu geben. Etwas in Mrs Perez’ Gesicht erinnerte mich daran. Sie riss sich zusammen. Sie steckte den Schlag mit einem kleinen Schaudern ein, mehr sah man ihr nicht an.
    Sie starrte die Leiche kurz an. Keiner sagte etwas. Ich spürte, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ich konzentrierte mich auf Mr Perez. Er sah zu Boden. Seine Augen waren feucht. Seine Lippen bebten.
    Ohne den Blick abzuwenden, sagte Mrs Perez: »Das ist nicht unser Sohn.«
    Schweigen. Das hatte ich nicht erwartet.
    York fragte: »Sind Sie sicher, Mrs Perez?«
    Sie antwortete nicht.
    »Als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben, war er noch ein Teenager.« York fuhr fort. »Und soweit ich weiß, hat er auch lange Haare gehabt.«
    »Das stimmt.«
    »Dieser Mann hat einen rasierten Kopf. Und er trägt einen Bart. Es ist lange her, Mrs Perez. Lassen Sie sich bitte Zeit.«
    Endlich gelang es Mrs Perez, den Blick von der Leiche abzuwenden. Sie sah York an. Der schwieg.
    »Das ist nicht Gil«, wiederholte sie.
    York schluckte und sah den Vater an. »Mr Perez?«
    Er rang sich ein Nicken ab und räusperte sich. »Er sieht ihm
nicht mal sehr ähnlich.« Er schloss die Augen und erzitterte wieder. »Er ist nur …«
    »Er ist nur im gleichen Alter«, beendete Mrs Perez den Satz.
    York sagte: »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    »Wenn man auf diese Weise ein Kind verliert, denkt man immer wieder daran. Für uns wird er immer ein Teenager bleiben. Aber wenn er weitergelebt hätte, na ja, dann wäre er jetzt ungefähr so alt wie dieser stämmige Mann. Also überlegt man, wie er ausgesehen hätte. Ob er verheiratet wäre? Ob er Kinder hätte? Und wie die Kinder aussehen würden?«
    »Sind Sie ganz sicher, dass dieser Mann nicht Ihr Sohn ist?«
    Sie lächelte das traurigste Lächeln, das ich je gesehen hatte. »Ja, Detective, ich bin ganz sicher.«
    York nickte. »Tut mir leid, dass ich Sie hier rausgebracht habe.«
    Sie waren gerade dabei, sich abzuwenden, als ich sagte: »Zeigen Sie ihnen den Arm.«
    Alle sahen mich an. Mrs Perez’ laserscharfer Blick erfasste mich. Es lag etwas darin, eine seltsame Verschlagenheit, vielleicht eine Herausforderung. Mr Perez sprach als Erster.
    »Wer sind Sie?«, fragte er.
    Ich sah

Weitere Kostenlose Bücher