Grab im Wald
Schlussstrich, hinter dem nichts mehr kommt. Schicke Särge und schöne Friedhöfe, selbst wenn sie so gut gepflegt waren wie dieser hier, ändern nichts daran.
Ich parkte den Wagen und ging den Pfad entlang. Auf ihrem Grab lagen frische Blumen. Wir Juden legen keine Blumen auf Gräber. Wir legen Steine auf den Grabstein. Ich mochte das, obwohl ich gar nicht so genau wusste, warum. Etwas so Lebendiges und Farbenfrohes wie Blumen fand ich vor ihrem grauen Grabstein irgendwie obszön. Meine Frau, meine schöne Jane,
vermoderte da knapp zwei Meter unter diesen frisch geschnittenen Lilien. Irgendwie kam mir das wie ein Frevel vor.
Ich setzte mich auf die Betonbank. Ich sprach nicht mit Jane. Am Ende war es so furchtbar gewesen. Jane hatte gelitten. Ich hatte zugesehen. Zumindest eine Weile. Wir hatten uns von einem Hospiz unterstützen lassen – eigentlich wollte Jane zu Hause sterben, aber ihr Gewichtsverlust, der Geruch, der Verfall und das Stöhnen hatten das unmöglich gemacht. Das Geräusch, an das ich mich am häufigsten erinnere und das ich auch immer noch in meinen Träumen höre, ist dieses grässliche Husten oder Würgen, wenn Jane den Schleim nicht aus der Luftröhre bekam. Sie hatte unerträgliche Schmerzen dabei, und es ging ihr extrem schlecht – und das über viele Monate. Ich habe versucht, stark zu sein, aber ich war nicht so stark wie Jane, und das wusste sie auch.
Am Anfang unserer Beziehung war ich eine Zeit lang unsicher. Und ich wusste auch genau, warum. Schließlich hatte ich eine Schwester verloren, meine Mutter hatte mich verlassen, und ich hatte damals zum ersten Mal seit langer Zeit eine Frau an meinem Leben teilhaben lassen. Ich weiß noch, wie ich einmal wach neben der schlafenden Jane lag und die Decke anstarrte. Ich erinnere mich an ihre langen, tiefen Atemzüge, die damals so gleichmäßig, perfekt und ganz anders waren als später, als es mit ihr zu Ende ging. Ihre Atemzüge waren kürzer geworden, als sie langsam aufwachte. Sie hatte ihre Arme um mich gelegt und war näher an mich herangerückt.
»Ich bin nicht sie«, hatte sie leise gesagt, als hätte sie meine Gedanken lesen können. »Ich werde dich nie verlassen.«
Aber dann hatte sie es doch getan.
Seit sie tot war, war ich ein paar Mal mit Frauen ausgegangen. Manchmal waren sogar ziemlich starke Gefühle im Spiel gewesen. Ich hoffe, eines Tages eine neue Frau zu finden und wieder zu heiraten. Aber in diesem Moment, als ich an diese
Nacht zurückdachte, in der wir nebeneinander im Bett gelegen hatten, wurde mir klar, dass es dazu wahrscheinlich nicht kommen würde. Ich bin nicht sie, hatte meine Frau gesagt.
Natürlich hatte sie meine Mutter gemeint.
Ich betrachtete den Grabstein. Ich las den Namen meiner Frau. Geliebte Mutter, Tochter und Frau. An den Seiten waren Engelsflügel. Ich stellte mir vor, wie meine Schwiegereltern sie ausgesucht hatten, Engelsflügel, die genau die richtige Größe haben mussten und genau den richtigen Stil und so weiter. Außerdem hatten Sie das Grab gekauft, das direkt neben Janes lag, ohne es mit mir abzusprechen. Es war wohl für mich, falls ich nicht wieder heiratete.
Falls doch, na ja, ich hatte keine Ahnung, was die Schwiegereltern damit machen würden.
Ich suchte Hilfe bei meiner Jane. Ich wollte sie bitten, sich da oben umzusehen, wo immer sie auch war, meine Schwester zu suchen und mich wissen zu lassen, ob Camille noch am Leben oder tot war. Ich lächelte dümmlich. Dann brach ich ab.
Ich war sicher, dass die Benutzung von Handys auf Friedhöfen tabu ist, glaubte aber nicht, dass Jane etwas dagegen hatte. Ich zog mein Handy aus der Tasche und drückte wieder lange die sechs.
Sosch meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte ich.
»Ich hab’s dir doch schon so oft gesagt. Nicht am Telefon.«
»Finde meine Mutter, Sosch.«
Schweigen.
»Du kannst das. Ich bitte dich. Im Angedenken an meinen Vater und meine Schwester. Finde meine Mutter für mich.«
»Und was ist, wenn ich das nicht schaffe?«
»Du schaffst das.«
»Deine Mutter ist schon sehr lange verschwunden.«
»Ich weiß.«
»Hast du auch mal darüber nachgedacht, dass sie vielleicht gar nicht gefunden werden will?«
»Hab ich«, sagte ich.
»Und?«
»Und dann hat sie eben Pech gehabt«, sagte ich. »Wir kriegen alle nicht immer das, was wir wollen. Also finde sie für mich, Sosch. Bitte.«
Ich legte auf. Wieder betrachtete ich den Grabstein meiner Frau.
»Du
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