Grab im Wald
Zeitungsartikel, keine Zahnbürste, keine persönlichen Gegenstände, nichts. Raya setzte sich auf die Couch. »Es muss jemand hier gewesen sein, der alles mitgenommen hat.«
»Wann sind Sie zum letzten Mal hier gewesen?«
»Vor drei Tagen.«
Ich ging zur Tür. »Kommen Sie.«
»Wo wollen Sie hin?«
»Ich will mit jemandem am Empfang reden.«
Aber da saß nur ein Jugendlicher. Er konnte uns praktisch nichts sagen. Der Bewohner hatte sich als Manolo Santiago angemeldet. Er hatte bar bezahlt und seine Kaution in bar hinterlegt. Das Zimmer war bis zum Monatsende bezahlt. Nein, er konnte sich nicht daran erinnern, wie Mr Santiago aussah und wusste auch sonst nichts über ihn. Das war das Problem mit diesen Apartmenthäusern. Man musste nicht durch die Lobby gehen, also war es sehr einfach, anonym zu bleiben.
Raya und ich gingen zurück in Santiagos Zimmer.
»Sie haben gesagt, dass er Papiere gehabt hat?«
»Ja.«
»Was stand drin?«
»Ich hab nicht in seinen Sachen rumgeschnüffelt.«
»Raya«, sagte ich.
»Was ist?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich Ihnen dieses Dummstellen nicht ganz abnehme.«
Sie sah mich mit ihren teuflischen Augen an.
»Was ist?«
»Ich soll Ihnen vertrauen, oder?«
»Ja.«
»Und warum sollte ich das tun?«
Ich dachte darüber nach.
»Als wir uns kennengelernt haben, haben Sie mich belogen«, sagte sie.
»Worüber?«
»Sie haben gesagt, dass Sie den Mord an ihm untersuchen. Wie ein richtiger Polizist oder so. Aber das hat überhaupt nicht gestimmt, oder?«
Ich sagte nichts.
»Manolo«, fuhr sie fort, »hat Ihnen nicht vertraut. Ich hab diese Artikel gelesen. Ich weiß, dass da im Wald vor zwanzig Jahren irgendwas passiert ist, in das Sie auch verwickelt waren. Manolo dachte, dass Sie damals wegen irgendwas gelogen haben.«
Ich sagte immer noch nichts.
»Und jetzt erwarten Sie, dass ich Ihnen alles erzähle. Würden Sie das an meiner Stelle machen? Würden Sie alles erzählen, was Sie wissen?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Gedanken geordnet hatte. Sie hatte Recht. »Dann haben Sie die Artikel gesehen?«
»Ja.«
»Sie wissen also, dass ich damals auch in dem Ferienlager war?«
»Ja.«
»Und Sie wissen, dass damals auch meine Schwester verschwunden ist?«
Sie nickte.
Ich sah sie an. »Deshalb bin ich hier.«
»Sie wollen Ihre Schwester rächen?«
»Nein«, sagte ich. »Ich will sie finden.«
»Aber ich dachte, sie ist tot. Wayne Steubens hat sie ermordet.«
»Das habe ich bis vor kurzem auch gedacht.«
Raya wandte sich einen Moment lang ab. Dann sah sie direkt durch mich hindurch. »Und in welchem Punkt haben Sie dann gelogen?«
»Ich habe nicht gelogen.«
Wieder diese Augen. »Sie können mir vertrauen«, sagte sie.
»Das tu ich auch.«
Sie wartete. Ich auch.
»Wer ist Lucy?«
»Sie ist ein Mädchen, das damals auch im Lager war.«
»Was noch? Was hat sie mit der Geschichte zu tun?«
»Ihrem Vater gehörte das Ferienlager«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Außerdem ist sie damals meine Freundin gewesen.«
»Und in welchem Punkt haben Sie beide gelogen?«
»Wir haben nicht gelogen.«
»Und wieso hat Manolo das dann behauptet?«
»Woher soll ich das wissen? Genau das will ich ja rauskriegen.«
»Das versteh ich nicht. Warum sind Sie davon überzeugt, dass Ihre Schwester noch lebt?«
»Ich bin nicht davon überzeugt«, sagte ich. »Aber ich glaube, es besteht eine große Wahrscheinlichkeit.«
»Wieso?«
»Wegen Manolo.«
»Was ist mit ihm?«
Ich sah ihr ins Gesicht und fragte mich, ob sie mich an der Nase herumführte. »Sie haben vorhin geblockt, als ich den Namen Gil Perez erwähnte«, sagte ich.
»Sein Name stand auch in den Artikeln. Er ist in der Nacht ebenfalls ermordet worden.«
»Das stimmt nicht«, sagte ich.
»Wieso stand das dann in den Artikeln?«
»Wissen Sie, warum Manolo sich dafür interessiert hat, was damals passiert ist?«
»Das hat er mir nicht erzählt.«
»Und Sie waren auch nicht neugierig?«
Sie zuckte die Achseln. »Er hat gesagt, es geht um Geschäfte.«
»Raya«, sagte ich, »Manolo Santiago war nicht sein richtiger Name.«
Ich zögerte, wollte sehen, ob sie sich aus der Reserve locken ließ und etwas verriet. Aber das tat sie nicht.
»Sein richtiger Name«, sagte ich, »war Gil Perez.«
Sie brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. »Der Junge aus dem Wald?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
Gute Frage. Aber ich sagte ohne Zögern: »Ja.«
Sie überlegte.
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