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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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ganze Sache bloß ausgedacht hat, nur so zum Spaß? Du kennst die Mädchen doch kaum. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie verzweifelt sie sind?«
    »Ich will damit sagen«, erwiderte Cassie kühl und mit gerunzelter Stirn, »dass ich mir Umstände vorstellen kann, in denen sie womöglich glauben, einen sehr guten Grund zu haben, sich so eine Geschichte auszudenken.«
    In dem Sekundenbruchteil, ehe ich vollends die Beherrschung verlor, fiel der Groschen. »Scheiße«, sagte ich. »Die Eltern.«
    »Halleluja. Anzeichen für intelligentes Leben.«
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich dich so angefahren hab, Cass. Die Eltern ... Scheiße. Wenn Jessica glaubt, ihre Mutter oder ihr Vater war’s, und sie die ganze Sache erfunden hat –«
    »Jessica? Du glaubst, sie könnte sich so was einfallen lassen? Sie kann doch kaum sprechen .«
    »Okay, dann eben Rosalind. Sie lässt sich den Burschen mit dem Trainingsanzug einfallen, um uns von ihren Eltern abzulenken, trichtert alles Jessica ein – die ganze Damien-Sache ist purer Zufall. Aber wenn sie sich solche Mühe macht, Cass ... dann muss sie was wissen, etwas Eindeutiges. Entweder sie oder Jessica müssen was gesehen haben, was gehört haben.«
    »An dem Dienstag ...«, sagte Cassie und bremste sich; aber der Gedanke sprang dennoch zwischen uns über, zu entsetzlich, um ausgesprochen zu werden. An dem Dienstag war Katys Leichnam irgendwo aufbewahrt worden.
    »Ich muss mit Rosalind sprechen«, sagte ich und griff nach dem Hörer.
    »Rob, lauf ihr nicht nach. Dann zieht sie sich nur zurück. Lass sie zu dir kommen.«
    Sie hatte recht. Kinder können von ihren Eltern geschlagen, vergewaltigt, auf jede unvorstellbare Art und Weise misshandelt werden, und dennoch bringen sie es nicht fertig, sie zu verraten, indem sie um Hilfe bitten. Falls Rosalind Jonathan oder Margaret oder beide schützte, dann würde ihre ganze Welt zusammenbrechen, wenn sie die Wahrheit sagte, und deshalb musste ich ihr die Zeit lassen, die sie brauchte. Wenn ich sie drängte, würde ich sie verlieren. Ich legte den Hörer wieder auf.
    Aber Rosalind rief nicht an. Nach ein, zwei Tagen hielt ich es nicht mehr aus und wählte ihre Handynummer – aus verschiedenen Gründen, von denen einige ziemlich konfus und bedrückend waren, wollte ich sie nicht übers Festnetz anrufen. Ich hinterließ eine Nachricht, doch sie rief nicht zurück.

    An einem grauen, scheußlichen Nachmittag fuhren Cassie und ich nach Knocknaree, um zu sehen, ob von den Savages oder Alicia Rowan irgendetwas Neues zu erfahren war. Wir waren beide ziemlich verkatert – es war der Tag nach Carl und seiner Internet-Pädophilie-Show – und wir sprachen sehr wenig. Cassie fuhr. Ich starrte zum Fenster hinaus auf die Blätter, die von einem böigen, unberechenbaren Wind gepeitscht wurden, und Nieselregen besprühte die Scheibe. Wir waren uns beide nicht sicher, ob es klug war, dass ich mitkam.
    Und als wir in meine alte Straße bogen und Cassie den Wagen parkte, machte ich im letzten Moment einen Rückzieher. Ich wollte nicht mit in Peters Haus. Nicht weil die Straße in mir plötzlich eine überwältigende Flut von Erinnerungen ausgelöst hätte oder so was in der Art – im Gegenteil: Sie erinnerte mich stark an jede andere Straße in der Siedlung, aber mehr auch nicht. Das brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ich fühlte mich benachteiligt, so als hätte Knocknaree mir schon wieder ein Schnippchen geschlagen. Ich war so verdammt oft bei Peter zu Hause gewesen, und ich hatte das unlogische Gefühl, dass seine Eltern mich mit größerer Wahrscheinlichkeit erkennen würden, falls ich nicht in der Lage war, sie zuerst zu erkennen.
    Ich sah vom Auto aus zu, wie Cassie zu Peters Tür ging und klingelte und eine schemenhafte Gestalt sie hereinließ. Dann stieg ich aus und schlenderte die Straße hinunter zu meinem alten Haus. Die Adresse – Knocknaree Way 11, Knocknaree, County Dublin – kam mir so automatisch in den Sinn wie etwas auswendig Gelerntes.
    Es war kleiner als in meiner Erinnerung, schmaler, der Rasen nur ein mickriges Quadrat, nicht die weite, kühle Grünfläche, die ich mir vorgestellt hatte. Die Fassade war vor nicht allzu langer Zeit neu gestrichen worden, ein fröhliches Buttergelb mit weißer Umrandung. Hohe Büsche mit roten und weißen Rosen an der Wand ließen die letzten Blütenblätter fallen, und ich fragte mich, ob mein Vater sie noch gepflanzt hatte. Ich blickte zum Fenster meines

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