Grabesgrün
Okay: Alicia Rowan.« Cassie richtete sich auf und suchte in ihrem Notizbuch die Hausnummer heraus. »Willst du mitkommen?«
Ich überlegte einen Augenblick. Aber wir waren nicht oft bei Jamie zu Hause gewesen, soweit ich mich erinnerte. Wenn wir nicht draußen waren, dann meistens bei Peter – bei ihm herrschte immer ein fröhlicher Lärmpegel von den vielen Geschwistern und Haustieren, seine Mutter machte Ingwerplätzchen, und seine Eltern hatten einen Fernseher auf Raten gekauft, und wir durften Zeichentrickfilme gucken. »Klar«, sagte ich. »Wieso nicht.«
Alicia Rowan kam an die Tür. Sie war noch immer schön, auf eine verblichene Art – zarte Statur, hohle Wangen, widerspenstiges blondes Haar und riesige, gehetzte blaue Augen – wie bei einer in Vergessenheit geratenen Filmdiva, deren Aussehen mit der Zeit etwas Rührendes angenommen hat. Ich sah den kleinen, abgenutzten Funken Hoffnung und Angst in ihren Augen aufglimmen, als Cassie uns vorstellte, und erlöschen, als wir Katy Devlins Namen nannten.
»Ja«, sagte sie, »ja, natürlich, das arme kleine Mädchen ... Glaubt die Polizei – glauben Sie, es hat was zu tun mit ...? Bitte, kommen Sie herein.«
Sobald wir eingetreten waren, wusste ich, dass es eine schlechte Idee gewesen war. Es lag an dem typischen Geruch im Haus, eine nostalgische Mischung aus Sandelholz und Kamille, die schnurstracks in mein Unterbewusstsein drang und Erinnerungen freisetzte, die wie Fische in trübem Wasser herumwuselten. Seltsames Brot mit Stückchen drin zum Abendessen, ein Gemälde von einer nackten Frau, oben im Flur. Wenn wir es sahen, stießen wir uns immer kichernd mit dem Ellbogen an. Versteckspiel im Schrank, die Arme um die Knie und dünne Baumwollblusen, die mir wie Rauch ins Gesicht trieben, »Neunundvierzig, fünfzig, ich komme!«, unten in der Diele.
Sie führte uns ins Wohnzimmer – handgewebte Überwürfe auf dem Sofa, ein lächelnder Buddha aus rauchiger Jade auf dem Couchtisch: Ich fragte mich, was Knocknaree in den Achtzigerjahren von Alicia Rowan gehalten hatte, und Cassie spulte die üblichen einleitenden Worte herunter. Auf dem Kaminsims stand – ich weiß nicht, wieso ich das nicht erwartet hatte – ein wirklich tolles gerahmtes Foto von Jamie: Sie saß lachend auf der Mauer am Rand der Siedlung und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne, hinter ihr der Wald, der schwarz und grün aufragte. Rechts und links von dem Bild waren kleine gerahmte Schnappschüsse aufgereiht, und auf einem davon waren drei Kinder zu sehen, Arm in Arm, Papierkronen auf dem Kopf, Weihnachten oder irgendein Geburtstag ... Ich hätte mir einen Bart wachsen lassen sollen, dachte ich wild und blickte weg, Cassie hätte mir Zeit geben sollen, um –
»Aus dem Bericht von damals geht hervor«, sagte Cassie, »dass Sie die Polizei angerufen und gesagt haben, Ihre Tochter und ihre Freunde seien weggelaufen. Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie angenommen haben, dass die drei weggelaufen waren? Ich meine, sie hätten sich auch verlaufen haben können oder einen Unfall gehabt haben.«
»Ach so, ja. Wissen Sie ... Oh, Gott.« Alicia Rowan fuhr sich mit den Händen durchs Haar, lange Hände, die knochenlos wirkten. »Ich hatte vor, Jamie aufs Internat zu schicken, und sie wollte nicht. Es klingt so entsetzlich egoistisch ... das war es wohl auch. Aber ich hatte wirklich gute Gründe.«
»Ms Rowan«, sagte Cassie sanft, »wir sind nicht hier, um Ihnen Vorwürfe zu machen.«
»Oh, nein, ich weiß, natürlich nicht. Aber man macht sich selbst Vorwürfe, nicht wahr? Und Sie würden ... ach, um das zu verstehen, müssten Sie die ganze Geschichte kennen.«
»Wir würden gern die ganze Geschichte hören. Vielleicht bringt sie uns ja weiter.«
Alicia nickte, ohne viel Hoffnung. Dergleichen hatte sie im Laufe der Jahre sicher schon oft zu hören bekommen. »Ja. Ja, vielleicht.«
Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, die Augen geschlossen, als würde sie bis zehn zählen. »Also ...«, sagte sie. »Ich war erst siebzehn, als ich Jamie bekam. Ihr Vater war ein Freund meiner Eltern, und sehr verheiratet, aber ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Und ich fand es irgendwie total schick und spannend, eine Affäre zu haben – Hotelzimmer und Heimlichtuereien –, und ich hielt ohnehin nicht viel vom Heiraten. Für mich war die Ehe eine überholte Form von Unterdrückung.«
Ihr Vater. Er stand in der Akte – George O'Donovan, Anwalt in Dublin –,
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