Grabesgrün
aber dreißig Jahre später schützte Alicia ihn noch immer. »Und dann wurden Sie schwanger«, sagte Cassie.
»Ja. Er war entsetzt, und meine Eltern kamen hinter die ganze Sache und waren erst recht entsetzt. Alle sagten, ich müsste das Kind zur Adoption freigeben, aber ich wollte nicht. Ich hab mich durchgesetzt. Ich hab gesagt, ich würde das Kind kriegen und es allein großziehen. Für mich war das so eine Art Einsatz für die Rechte der Frauen, glaub ich: eine Rebellion gegen das Patriarchat. Ich war sehr jung.«
Sie hatte Glück gehabt. Im Irland des Jahres 1972 landeten junge Frauen aus weitaus geringeren Anlässen in Anstalten oder in den sogenannten Magdalenen-Heimen für »gefallene« Mädchen. »Das war ganz schön mutig«, sagte Cassie.
»Oh, danke, Detective. Ich glaube, das war ich auch, damals. Aber ich frage mich, ob die Entscheidung richtig war. Ich denke oft – wenn ich Jamie zur Adoption gegeben hätte, dann ...« Ihre Stimme verlor sich.
»Haben sich irgendwann alle wieder beruhigt?«, fragte Cassie. »Ihre Eltern und Jamies Vater?«
Alicia seufzte. »Nein. Eigentlich nicht. Irgendwann haben sie gesagt, ich könnte das Baby behalten, solange wir beide uns aus ihrem Leben raushielten. Ich hatte Schande über die Familie gebracht, verstehen Sie? Und natürlich wollte Jamies Vater nicht, dass seine Frau von mir erfuhr.« In ihrer Stimme lag kein Zorn, nur schlichte, traurige Verwunderung. »Meine Eltern haben mir dann dieses Haus gekauft – schön weit weg. Ich stamme aus Dublin, aus Howth – und mir hin und wieder etwas Geld gegeben. Ich habe Jamies Vater Briefe geschrieben, damit er weiß, wie seine Tochter sich macht, und Fotos mitgeschickt. Ich war überzeugt, dass er es sich früher oder später anders überlegen und den Wunsch haben würde, sie kennenzulernen. Vielleicht hätte er das ja auch. Ich weiß nicht.«
»Und wann haben Sie beschlossen, sie aufs Internat zu schicken?«
Alicia wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Ich ... ach je. Ich denke nicht gern daran.«
Wir warteten.
»Ich war gerade dreißig geworden«, sagte sie schließlich. »Und ich hab gemerkt, dass ich nicht zufrieden war damit, was aus mir geworden war. Ich hab in einem Café in der Stadt gekellnert, während Jamie in der Schule war, aber richtig gelohnt hat sich die Arbeit nicht, mit dem Fahrgeld für den Bus, und für einen vernünftigen Job hatte ich keine Ausbildung ... Ich wollte einfach nicht so weiterleben. Ich wollte etwas Besseres, für mich und für Jamie. Ich ... ach, in vielerlei Hinsicht war ich selbst noch ein Kind. Ich hatte nie die Chance gehabt, erwachsen zu werden. Und das wollte ich unbedingt.«
»Und dafür«, sagte Cassie, »brauchten Sie ein bisschen Zeit für sich?«
»Ja. Ganz genau. Sie verstehen das.« Sie drückte Cassie dankbar den Arm. »Ich wollte einen richtigen Beruf, um nicht weiter auf meine Eltern angewiesen zu sein, aber ich wusste nicht, was für einen Beruf. Ich brauchte Zeit, um das herauszufinden. Und dann hätte ich wahrscheinlich irgendeine Ausbildung machen müssen, und ich hätte Jamie doch nicht die ganze Zeit allein lassen können ... Es wäre anders gewesen, wenn ich einen Mann gehabt hätte oder eine Familie, die mich unterstützt. Ich hatte ein paar Freunde, aber von denen konnte ich ja nicht erwarten, dass –« Sie zwirbelte sich die Haare immer fester um den Finger.
»Logisch«, sagte Cassie sachlich. »Dann haben Sie Jamie also von Ihrer Entscheidung erzählt ...«
»Ich hab es ihr gleich im Mai erzählt, als ich den Entschluss gefasst hatte. Aber sie war alles andere als begeistert. Ich hab versucht, es ihr zu erklären, und ich bin mit ihr nach Dublin gefahren, um ihr die Schule zu zeigen, aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Sie fand die Schule abscheulich. Sie sagte, die Mädchen wären alle doof und würden nur über Jungs und Klamotten reden. Jamie war dagegen ein richtiger Wildfang, sie tobte am liebsten draußen im Wald herum. Sie fand die Vorstellung schrecklich, in einer Schule in der Stadt eingesperrt zu sein und sich den anderen Schülern anpassen zu müssen. Und sie wollte bei ihren besten Freunden bleiben, Adam und Peter – der kleine Junge, der mit ihr zusammen verschwunden ist.« Ich musste den Impuls unterdrücken, das Gesicht hinter meinem Notizbuch zu verstecken.
»Es kam also zum Streit.«
»Das kann man wohl sagen. Es war eher ein Streik als ein Streit. Jamie und Peter und Adam haben die ganze Erwachsenenwelt
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