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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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bei Cassie übernachtet hatte und nicht schlafen konnte – und streifte dann stundenlang durch die Stadt wie in Trance, lauschte auf leise Geräusche in den versteckten Winkeln meines Gehirns. Wenn ich dann zu mir kam, verwirrt und blinzelnd, starrte ich manchmal auf das geschmacklose Neonschild eines unbekannten Shoppingcenters oder die eleganten Giebel irgendeiner alten Villa im nobleren Teil von Dun Laoghaire, ohne den geringsten Schimmer, wie ich dorthingekommen war.
    In gewisser Weise funktionierte es wenigstens. Sobald meine Gedanken einmal von der Leine gelassen waren, löste sich eine Flut von Bildern, wie eine Diashow im Schnelldurchlauf, und nach und nach kriegte ich den Dreh raus, wie ich eines im Vorbeifliegen fangen konnte, um es dann mit leichter Hand festzuhalten und abzuwarten, wie es sich in meinen Händen entfaltete: Wie unsere Eltern mit uns in die Stadt fuhren, um uns für die erste heilige Kommunion einzukleiden; Peter und ich, schick in unseren dunklen Anzügen, kriegten uns nicht mehr ein vor Lachen, als Jamie – nachdem sie sich lange im Flüsterton mit ihrer Mutter gestritten hatte – aus der Umkleidekabine kam, im Gesicht eine Mischung aus Entsetzen und Abscheu und gekleidet wie ein Sahnebaiser. Mad Mick, der Dorftrottel in unserer Siedlung, trug das ganze Jahr Mäntel und fingerfreie Handschuhe und flüsterte unentwegt Schimpftiraden vor sich hin. Peter meinte, Mick sei verrückt geworden, weil er als junger Mann irgendwas Schlimmes mit einem Mädchen gemacht hatte und sie schwanger wurde, woraufhin sie sich im Wald erhängte und im Gesicht ganz schwarz anlief. Eines Tages fing Mick vor Lowrys Laden an zu schreien. Die Polizei brachte ihn im Streifenwagen weg, und wir sahen ihn nie wieder. Mein Tisch in der Schule, altes, gemasertes Holz mit einem altmodischen Loch am vorderen Rand für ein Tintenfass, die Oberfläche blank gewetzt und über die Jahre vollgekritzelt – ein Hockeyschläger, ein Herz mit Initialen drin und überschrieben mit »Des Pearse war hier, 12. 10. 67«. Nichts Besonderes, ich weiß, nichts, was irgendwie hilfreich für den Fall war, kaum der Rede wert. Aber vergessen Sie nicht, ich war daran gewöhnt, dass die ersten zwölf Jahre meines Lebens mehr oder weniger verschüttet waren. Für mich war jedes Fitzelchen, das ich wieder hervorkramen konnte, ungeheuer kraftvoll und magisch, ein Fragment des Rosettasteins, in den bloß ein einziges verlockendes Zeichen eingemeißelt war.
    Und einmal gelang es mir tatsächlich, mich an etwas zu erinnern, das zwar nicht brauchbar war, aber zumindest als relevant bezeichnet werden konnte. Megadeth und Sandra sitzen in einem Baum ... Wir, so wurde mir allmählich und mit einem seltsamen Gefühl von Gekränktsein klar, waren nicht die Einzigen gewesen, die den Wald als ihr Territorium beansprucht hatten. Tief im Wald war eine Lichtung, nicht weit von der alten Burg – die ersten Glockenblumen im Frühling, Schwertkämpfe mit biegsamen Zweigen, die lange, rote Striemen auf unseren Armen hinterließen, ein Dickicht von Sträuchern, das im Spätsommer voller Brombeeren war – und manchmal, wenn uns nichts Besseres einfiel, spionierten wir den Bikern nach, die sich dort trafen. Ich konnte mich nur an ein einziges Mal erinnern, aber mein Gefühl sagte mir: Wir hatten das schon öfter gemacht.
    Ein heißer Sommertag, Sonne im Nacken und Fantageschmack im Mund. Sandra lag im platt gedrückten Gras auf der Lichtung, Megadeth halb auf ihr drauf. Die Bluse war ihr von der Schulter gerutscht, sodass ihr BH-Träger zu sehen war, schwarze Spitze. Die Hände hatte sie in Megadeths Haar, und sie küssten sich mit weit offenen Mündern. »Iiihhh, da kriegt man ja Bazillen von«, flüsterte Jamie an meinem Ohr.
    Ich drückte mich fester auf die Erde, spürte, wie das Gras mir Kreuzmuster auf den Bauch druckte, wo mein T-Shirt hochgerutscht war. Wir atmeten durch den Mund, um leiser zu sein.
    Peter machte ein langes Kussgeräusch, aber ganz leise, damit sie ihn nicht hörten, und wir hielten uns den Mund zu, bebten vor unterdrücktem Gelächter, stießen uns gegenseitig mit dem Ellbogen an, um einander zur Ruhe zu mahnen. Sonnenbrille und das große Mädchen mit fünf Ohrringen waren auf der anderen Seite der Lichtung. Anthrax hielt sich meist am Rand des Waldes, wo er gegen die Mauer trat und rauchte und mit Steinen auf Bierdosen warf. Peter hielt grinsend einen Kieselstein hoch. Er warf ihn, und der landete knapp neben Sandras Schulter im Gras.

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