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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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ich keine Ahnung. Ich hatte immer gedacht, da gäbe es auch nichts zu wissen, aber auf einmal war ich mir nicht mehr so sicher. Ich blickte Cassie aufmunternd an, aber sie knetete meine Ferse und schenkte mir ihr bestes rätselhaftes Lächeln.
    »Es war nicht nur wegen der Murmeln«, sagte sie, »weshalb ich überhaupt mit in den Schuppen gegangen bin.« Cassies Verstand kann schwindelerregende Kapriolen schlagen und dann schnell wieder zum Kern zurückkommen. »Es lag auch an dem Typen selbst, er erinnerte mich irgendwie an diese geheimnisvollen alten Männer in Märchen, und ich hab mir vorgestellt, in dem Schuppen wären lauter Regale mit Wahrsagerkugeln und Gläser mit Zaubertrank und alte Pergamente und winzig kleine Drachen in Käfigen. Ich wusste, dass es nur ein Schuppen war und der Mann der Hausmeister, aber gleichzeitig hab ich gedacht, das wäre meine Chance, eins von den Kindern zu werden, die durch den Spiegel in eine andere Welt gelangen, und ich fand die Vorstellung unerträglich, für den Rest meines Lebens mit dem Gedanken leben zu müssen, diese Chance vertan zu haben.«

    Cassie und ich – wie soll ich Ihnen das je verständlich machen? Dazu müsste ich mit Ihnen jeden Pfad unserer geheimen gemeinsamen Geographie abschreiten. Für die meisten ist es unvorstellbar, dass ein Heteromann und eine Heterofrau richtige Freunde sein können, platonische Freunde, aber wir scherten uns einfach nicht darum. Cassie war die Sommercousine aus Kinderbüchern, der du an einem mückenumschwärmten See Schwimmen beibrachtest und Kaulquappen in den Badeanzug stecktest, mit der du auf einer Wiese küssen übtest und Jahre später bei einem heimlichen Joint auf dem vollgestellten Speicher eurer Granny darüber lachtest. Sie lackierte mir die Fingernägel golden und wettete, dass ich mich nicht trauen würde, so zur Arbeit zu gehen. Sie schnitt die Beschriftung auf der Verpackung ihres neuen Mousepads aus und heftete sie mir auf den Rücken, sodass ich den halben Tag ahnungslos mit dem Spruch TOUCH ME FEEL THE DIFFERENCE herumspazierte. Wir kletterten aus ihrem Fenster und die Feuerleiter runter auf das Dach des Anbaus, wo wir uns hinlegten und neu erfundene Cocktails tranken, Tom Waits sangen und in die Sterne schauten, bis uns schwindelig wurde.
    Nein. Das alles sind Geschichten, an die ich gerne denke, kleine strahlende Münzen und nicht ohne Wert, aber zunächst mal war sie meine Partnerin, und das war das Fundament für alles andere. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen erklären soll, was das Wort selbst heute noch für mich bedeutet. Ich könnte erzählen, wie es ist, von Raum zu Raum zu gehen, die Pistole mit beiden Händen umfasst, durch ein stilles Haus, wo hinter jeder Tür ein bewaffneter Tatverdächtiger lauern könnte; oder bei einer Überwachung nächtelang in einem dunklen Auto zu sitzen, schwarzen Kaffee aus einer Thermosflasche zu trinken und sich im Licht einer Straßenlaterne die Zeit mit Gin-Rommé zu vertreiben. Einmal verfolgten wir zwei Jugendliche, die auf einer Spritztour mit einem gestohlenen Wagen einen Unfall verursacht und das Weite gesucht hatten, durch ihr eigenes Revier – Graffiti und mit Müll übersäte verlassene Grundstücke rasten an den Fenstern vorbei, sechzig Meilen die Stunde, siebzig, ich drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, ohne noch auf den Tacho zu gucken –, bis der Wagen vor uns gegen eine Wand krachte, und dann versprachen wir dem schluchzenden, fünfzehnjährigen Fahrer, dass seine Mutter und der Rettungswagen bald da sein würden, während er in unseren Armen starb. In einem berüchtigten Wohnsilo bedrohte ein Junkie mich mit einer Nadel – wir waren nicht mal an ihm interessiert, sondern hinter seinem Bruder her, und nachdem die Unterhaltung halbwegs gesittet vonstatten gegangen war, drückte er mir plötzlich blitzschnell eine Nadel an die Kehle. Ich stand wie versteinert da, in Schweiß gebadet, und betete inständig, dass keiner von uns niesen musste, während Cassie sich im Schneidersitz auf den stinkenden Teppichboden setzte und eine Stunde und zwanzig Minuten mit ihm redete (derweil er mal unsere Brieftaschen, mal ein Auto, einen Schuss, eine Sprite oder in Ruhe gelassen werden wollte). Sie sprach so sachlich und ehrlich interessiert mit ihm, dass er schließlich die Spritze senkte und an der Wand herunterrutschte, sodass er ihr gegenübersaß, und als er gerade anfing, ihr sein Leben zu erzählen, hatte ich meine Hände wieder unter Kontrolle und konnte

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