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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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ihm lassen: eine ganze Menge Vorgesetzte hätten Cassie und mir den Fall gleich zu Anfang weggenommen. Irland ist im Grunde noch immer eine Kleinstadt. In der Regel wissen wir fast immer im Handumdrehen, wer der Täter ist. Zeit und Mühe kostet also nicht die Tätersuche, sondern der lückenlose Tatnachweis für die Anklage. Als in den ersten paar Tagen klar wurde, dass dieser Fall wesentlich aufwändiger und obendrein publicityträchtig geraten würde, hatte es O'Kelly bestimmt in den Fingern gejuckt, uns wieder die Taxistandsache aufzuhalsen und Costello oder einen anderen alten Hasen mit dem Fall zu betrauen. Ich halte mich im Großen und Ganzen nicht für naiv, aber dass er das nicht getan hatte, hatte ich mir mit irgendeiner sturen, widerwilligen Loyalität erklärt – nicht uns persönlich gegenüber, sondern uns als Angehörigen seines Dezernats gegenüber. Der Gedanke hatte mir gefallen. Jetzt fragte ich mich, ob vielleicht mehr dahintersteckte: Ob ihm nicht der sechste Sinn eines alten Veteranen die ganze Zeit verraten hatte, dass wir zum Scheitern verurteilt waren.
    »Behaltet ein paar von ihnen«, sagte O'Kelly großmütig. »Für die Hotline und die Laufarbeit und alles. Wen wollt ihr?«
    »Sweeney und O'Gorman«, sagte ich. Ich kannte zwar inzwischen die meisten mit Namen, aber im Augenblick fielen mir nur die beiden ein.
    »Macht Feierabend«, sagte O'Kelly. »Gönnt euch ein freies Wochenende. Geht ein Bier trinken, schlaft euch aus – Ryan, Sie sehen fix und fertig aus. Macht was Schönes mit Freund oder Freundin oder was immer ihr habt. Kommt am Montag wieder und fangt mit frischer Energie an.«

    Draußen im Korridor blickten wir einander nicht an. Niemand machte Anstalten, zurück in den SOKO-Raum zu gehen. Cassie lehnte sich gegen die Wand und bürstete den Teppichflor mit der Schuhspitze gegen den Strich.
    »In gewisser Weise hat er recht«, sagte Sam schließlich. »Allein sind wir stark, also ran ans Werk.«
    »Nicht, Sam«, sagte ich. »Bitte nicht.«
    »Was denn?«, fragte Sam verdattert. »Was soll ich nicht?«
    Ich blickte weg.
    »Es geht ums Prinzip«, sagte Cassie. »Wir dürften mit dem Fall nicht so festhängen. Wir haben die Leiche, die Waffe, den ... Wir müssten längst jemanden haben.«
    »Tja«, sagte ich, »ich weiß jedenfalls, was ich jetzt mache. Ich suche mir den nächstbesten halbwegs erträglichen Pub und geb mir die Kante. Ist jemand mit von der Partie?«

    Wir gingen schließlich ins Doyle’s: laute Achtzigermusik und zu wenig Tische, Geschäftsleute und Studenten Schulter an Schulter an der Bar. Keinem von uns stand der Sinn nach irgendeiner Polizeistammkneipe, wo jeder, den wir trafen, zwangsläufig nach dem Stand der Ermittlungen fragen würde. Als ich etwa bei der dritten Runde vom Klo zurückkam, stieß ich mit dem Ellbogen eine junge Frau an. Prompt schwappte ihr Drink über und bekleckerte uns beide. Es war ihre Schuld – sie hatte über eine Bemerkung ihrer Freunde lachen müssen und dabei einen Schritt nach hinten gemacht, auf mich zu. Aber sie war bildhübsch, der kleine, elfenhafte Typ, auf den ich stehe, und sie musterte mich mit einem sanften, anerkennenden Blick, während wir uns beide entschuldigten und den Schaden verglichen. Ich spendierte ihr einen neuen Drink und fing ein Gespräch an.
    Sie hieß Anna, studierte Kunstgeschichte und trug einen schwingenden weißen Baumwollrock. Sie hatte blondes Haar, das mich an warme Strände denken ließ, und eine Taille, die ich mit den Händen hätte umfassen können. Ich sagte, ich wäre Literaturdozent an einer Uni in England und wäre hier, um über Bram Stoker zu recherchieren. Sie saugte am Rand ihres Glases und lachte über meine Scherze, zeigte dabei kleine weiße Zähne mit einem liebenswerten Überbiss.
    Hinter ihr grinste Sam und zog eine Augenbraue hoch, und Cassie äffte mich nach, indem sie hechelte und Augen machte wie ein junger Hund, aber es war mir egal. Es war eine Ewigkeit her, seit ich mit jemandem geschlafen hatte, und ich wollte diese Frau unbedingt abschleppen, mich mit ihr kichernd in eine Studentenbude schleichen, mit Kunstdrucken an den Wänden, mir ihr üppiges Haar um die Finger wickeln und meinen Verstand in völlige Leere gleiten lassen, die ganze Nacht und den halben nächsten Tag in ihrem süßen, sicheren Bett liegen und nicht ein einziges Mal an diese beschissenen Fälle denken. Ich legte Anna eine Hand auf die Schulter, um sie vor einem Typen zu retten, der mit vier großen

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