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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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»Was ist denn passiert?«
    »In unserer Schule waren irgendwann mal alle verrückt nach Murmeln – man spielte ständig mit Murmeln, in den Pausen, nach dem Unterricht. Man schleppte sie in einer Plastiktüte mit sich rum, und es war total wichtig, wie viele man hatte. An dem Tag musste ich nachsitzen –«
    »Du? Ich muss mich sehr wundern«, sagte ich. Ich wälzte mich auf die Seite und nahm mein Glas. Ich war nicht sicher, was kommen würde.
    »Jetzt hör aber auf, nur weil du im Internat Musterschüler warst. Jedenfalls, als ich endlich nach Hause durfte und das Schulgebäude verließ, kam der Hausmeister aus einem kleinen Schuppen und sagte: ›Möchtest du Murmeln? Komm mit hier rein, und ich schenk dir Murmeln.‹ Der Typ war schon älter, vielleicht sechzig, mit weißem Haar und einem großen Schnurrbart, und ich bin mit reingegangen.«
    »Meine Güte, Cass. Du dummes, dummes Ding«, sagte ich. Ich nahm wieder einen Schluck, stellte das Glas hin und zog ihre Füße auf meinen Schoß, um sie zu kraulen.
    »Nein, wie gesagt, es ist nichts passiert. Er hat sich hinter mich gestellt und die Hände unter meine Arme geschoben, so als wollte er mich hochheben, doch dann hat er plötzlich an den Knöpfen meiner Bluse herumgefummelt. Ich hab gesagt: ›Was machen Sie denn?‹, und er hat gesagt: ›Die Murmeln sind da oben auf dem Regal. Ich heb dich hoch, und du holst sie runter.‹ Ich hab gewusst, dass da irgendwas nicht stimmte, aber ich hatte keine Ahnung, was, also hab ich ... mich weggedreht und gesagt: ›Ich will keine Murmeln‹, und dann bin ich nichts wie nach Hause.«
    »Du hast Glück gehabt«, sagte ich. Sie hatte schlanke Füße mit hohem Spann. Selbst durch die weichen, dicken Socken, die sie zu Hause trug, konnte ich die Sehnen spüren, die kleinen Knochen unter meinen Daumen. Ich stellte sie mir mit elf Jahren vor, aufgeschlagene Knie und abgebissene Fingernägel und ernste braune Augen.
    »Das kann man wohl sagen. Es hätte Gott weiß was passieren können.«
    »Hast du irgendwem von der Sache erzählt?« Ich wollte mehr von dieser Geschichte, irgendeine erschütternde Offenbarung, irgendein schreckliches, schändliches Geheimnis.
    »Nein. Ich fand das Ganze zu eklig, und außerdem wusste ich nicht mal, was ich hätte erzählen können. Das ist der springende Punkt: Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, es könnte was mit Sex zu tun haben. Ich wusste natürlich, was Sex ist, meine Freundinnen und ich haben über nichts anderes geredet, ich wusste, dass da irgendwas nicht stimmte, ich wusste, dass er mir die Bluse aufknöpfen wollte, aber ich hab da keinen Zusammenhang hergestellt. Erst Jahre später, als ich etwa achtzehn war, fiel mir die Sache wieder ein. Ich glaub, als ich gesehen hab, wie ein paar Kinder mit Murmeln spielten oder so – und plötzlich ist mir klar geworden: Oh Gott, der Typ hat versucht, mich zu missbrauchen!«
    »Und was hat das alles mit Katy Devlin zu tun?«, fragte ich.
    »Kinder stellen Zusammenhänge nicht so her, wie Erwachsene das tun«, sagte Cassie. »Her mit deinen Füßen, jetzt bin ich dran.«
    »Lieber nicht. Siehst du nicht die Geruchswellen, die von meinen Socken aufsteigen?«
    »Mensch, du bist widerlich. Wechselst du sie denn schon mal?«
    »Wenn sie an der Wand kleben bleiben. Nach alter Junggesellentradition.«
    »Das ist keine Tradition. Das ist umgekehrte Evolution.«
    »Also schön, von mir aus«, sagte ich und streckte ihr meine Füße hin.
    »Nein. Schaff dir’ne Freundin an. Eine Freundin darf sich nicht dran stören, wenn du Käsesocken hast. Eine gute Freundin schon.« Dennoch schüttelte sie rasch und profimäßig ihre Hände und nahm meinen Fuß. »Außerdem wärst du nicht so eine Nervensäge, wenn sich bei dir mal wieder was täte.«
    »Musst du gerade sagen«, sagte ich und machte mir im selben Augenblick klar, dass ich keinen Schimmer hatte, ob und was sich bei Cassie in dieser Hinsicht tat. Bevor ich sie kennenlernte, hatte sie eine halbwegs ernste Beziehung mit einem Anwalt namens Aidan gehabt, aber als Cassie im Morddezernat anfing, war die Sache mit ihm wohl schon wieder aus. Beziehungen lassen sich mit Undercoverarbeit nur selten unter einen Hut bringen. Natürlich hätte ich gewusst, wenn sie seitdem einen festen Partner gehabt hätte, und ich bilde mir ein, dass ich darüber informiert gewesen wäre, wenn sie ein lockeres Verhältnis unterhalten hätte, was immer das heißen mag, aber was darüber hinaus bei ihr lief, davon hatte

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