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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Luft.
    Jamie war da, kauerte in einer Ecke, einen Arm vor dem Mund. Sie weinte bitterlich. Einmal, es war eine Ewigkeit her, war sie beim Laufen mit dem Fuß in ein Kaninchenloch geraten und hatte sich den Knöchel gebrochen. Wir hatten sie den ganzen Weg huckepack nach Hause getragen, und sie hatte kein bisschen geweint, nicht einmal, als ich stolperte und ihr Bein einen Schlag abbekam, sondern nur gerufen » Aua, Adam, du Doofmann!«, und mir in den Arm gekniffen.
    Ich kletterte nach unten in den Raum. »Haut ab!«, rief Jamie, gedämpft durch den Arm und die Tränen. Sie war rot im Gesicht und hatte zerzaustes Haar, die Haarspangen standen ab. »Lasst mich in Ruhe.«
    Peter war noch oben auf der Mauer. »Musst du aufs Internat?«, fragte er.
    Jamie presste Augen und Mund fest zusammen, aber trotzdem brachen sich Schluchzer Bahn. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagte. »Sie hat nie was gesagt, sie hat so getan, als wäre alles in Ordnung, und die ganze Zeit ... hat sie bloß gelogen .«
    Es verschlug mir den Atem, so unfair fand ich das. Wir werden sehen, hatte Jamies Mutter gesagt, mach dir keine Gedanken ; und wir hatten ihr geglaubt und uns keine Gedanken mehr gemacht. Nie zuvor hatte uns ein Erwachsener hintergangen, jedenfalls nicht in so wichtigen Sachen, und ich konnte es einfach nicht fassen. Wir hatten den ganzen Sommer gedacht, wir könnten für immer zusammen sein.
    Peter balancierte nervös auf der Mauer hin und her, stellte sich auf einen Fuß. »Dann machen wir es eben nochmal. Wir streiken. Wir –«
    »Nein!«, rief Jamie. »Sie hat schon das Schulgeld bezahlt und alles, es ist zu spät – ich muss in zwei Wochen weg! Zwei Wochen ...« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und sie schlug sie gegen die Wand.
    Ich konnte es nicht ertragen. Ich kniete mich neben Jamie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie schüttelte ihn ab, doch als ich es erneut versuchte, ließ sie es zu. »Nicht, Jamie«, flehte ich. »Nicht weinen, bitte.« Das grüngoldene Gewirr von Ästen um uns herum, Peter, der ganz verwirrt war, und die weinende Jamie, die seidene Haut ihres Arms, von der mir die Hand prickelte. Die ganze Welt schien zu wanken, die Steine der Burg schwankten unter mir wie das Deck eines Schiffs im Film. »Du kommst jedes Wochenende nach Hause ...«
    »Das ist nicht das Gleiche!«, schrie Jamie. Sie legte den Kopf in den Nacken und schluchzte hemmungslos, die dünne, braune Kehle dem Himmel zugewandt. Die schiere Verzweiflung in ihrer Stimme durchfuhr mich siedendheiß, und ich wusste, dass sie recht hatte: Es würde nicht mehr das Gleiche sein, nie wieder.
    »Nein, Jamie, nicht – hör auf ...« Ich musste irgendetwas tun. Ich wusste, es war dumm, aber einen Moment lang hätte ich am liebsten gesagt, ich würde an ihrer Stelle gehen, sie könnte für immer hierbleiben ... Ehe ich merkte, was ich tat, senkte ich den Kopf und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre Tränen waren nass an meinem Mund. Sie roch nach Gras in der Sonne, warm und grün, berauschend.
    Sie war so erschrocken, dass sie aufhörte zu weinen. Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte mich an, mit großen, rotgeränderten, blauen Augen, dicht vor meinem Gesicht. Ich wusste, sie würde irgendetwas tun, mich schlagen, mir auch einen Kuss geben –
    Peter sprang von der Mauer und ließ sich vor uns auf die Knie fallen. Er packte mit einer Hand fest mein Handgelenk und mit der anderen das von Jamie. »Hört zu«, sagte er. »Wir reißen aus.«
    Wir starrten ihn an.
    »Das ist Quatsch«, sagte ich schließlich. »Die schnappen uns.«
    »Nein, nein, bestimmt nicht, jedenfalls nicht sofort. Wir verstecken uns ein paar Wochen hier, kein Problem. Es muss ja nicht für ewig sein – bloß, bis wir aus dem Schneider sind. Sobald die Schule angefangen hat, können wir wieder nach Hause. Dann ist es zu spät. Und selbst wenn sie trotzdem weggeschickt wird, na und? Dann hauen wir eben wieder ab. Wir fahren nach Dublin und holen Jamie aus dem Internat. Dann kriegt sie einen Schulverweis und muss wieder nach Hause. Klar?«
    Seine Augen leuchteten. Die Idee setzte sich fest, breitete sich aus, wirbelte zwischen uns in der Luft.
    »Wir könnten hier leben«, sagte Jamie. Sie schnappte hicksend nach Luft. »In der Burg, mein ich.«
    »Wir sind jeden Tag woanders. Hier, auf der Lichtung, an dem großen Baum, wo die Äste wie ein Nest sind. Wir geben denen keine Chance, uns aufzuspüren. Glaubt ihr etwa, hier findet uns einer? Nie im

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