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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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irgendwo weiter vor uns –
    »Was ist –«, setzte ich im Flüsterton an.
    »Psst.« Musik oder eine Stimme oder bloß eine Sinnestäuschung: das Geräusch des Flusses auf Steinen, der Wind in der hohlen Eiche? Der Wald hatte unzählige Stimmen, die sich mit jeder Jahreszeit und jedem Tag veränderten; man konnte sie unmöglich alle kennen.
    »Kommt«, sagte Jamie, mit glänzenden Augen, »los, kommt schon«, und sie hechtete wie ein Flughörnchen von der Mauer an einen Ast. Sie schwang einmal vor und zurück, ließ los, rollte sich auf dem Boden ab und rannte. Peter sprang ihr nach, als der Ast noch schwankte, ich kletterte an der Mauer hinunter und lief ihnen nach. »Wartet auf mich, wartet –«
    Der Wald war nie so üppig und wild gewesen. Grelles Sonnenlicht flirrte auf den Blättern, und die strahlenden Farben waren eine Augenweide, der berauschende Geruch nach fruchtbarer Erde stieg einem förmlich zu Kopf. Wir flitzten durch Wolken von Mücken und sprangen über Gräben und vermoderte Baumstämme, Zweige wirbelten um uns herum wie Wasser, Schwalben kreuzten unseren Weg, und in den Bäumen rechts und links von uns hielten, ich schwöre es, drei Rehe mit uns Schritt. Ich fühlte mich federleicht und glücklich und ungezähmt, nie zuvor war ich so schnell gelaufen oder mühelos so hoch gesprungen; einmal kräftig mit dem Fuß abgestoßen, und ich hätte fliegen können.
    Wie lange rannten wir? All die vertrauten, geliebten Orientierungspunkte mussten sich verlagert haben, um uns Glück zu wünschen, denn wir kamen an jedem von ihnen vorbei; wir sprangen über den Steintisch und flogen über die Lichtung, durch peitschende Brombeerzweige, beäugt von neugierigen Kaninchen, wir ließen die Reifenschaukel pendelnd hinter uns und schwangen uns mit einer Hand um die hohle Eiche herum. Und irgendwo vor uns, so süß und wild, dass es wehtat, lockte uns –
    Allmählich merkte ich, dass ich im Schlafsack schweißnass war, dass ich zitterte, weil mein gegen den Baumstamm gedrückter Rücken ganz steif geworden war, und dass mein Kopf krampfhaft nickte wie bei einer Spielzeugfigur. Der Wald war schwarz, leer, als wäre ich blind geworden. Von weit weg erklang ein plätscherndes Geräusch, wie Regentropfen auf Blätter, leise und um sich greifend. Ich versuchte mit aller Kraft, es zu ignorieren, um dem zarten Goldfaden der Erinnerung weiter folgen zu können, ihn nicht in dieser Dunkelheit versinken zu lassen, sonst würde ich den Weg nach Hause niemals finden.
    Lachen strömte über Jamies Schulter wie bunte Seifenblasen, Bienen tanzten in einem Sonnenstrahl, und Peters Arme flogen hoch, als er jauchzend über einen abgefallenen Ast sprang. Meine Schnürsenkel gingen auf, und irgendwo in mir hoben Alarmglocken zu einem wilden Geläut an, als ich spürte, wie sich die Siedlung hinter uns in Dunst auflöste, seid ihr sicher, seid ihr sicher, Peter, Jamie, wartet, bleibt stehen –
    Das plätschernde Geräusch breitete sich durch den ganzen Wald aus, hob und senkte sich, näherte sich von allen Seiten. Es war in den Ästen hoch über mir, im Unterholz hinter mir, klein und flink und eifrig. Mir sträubten sich die Haare im Nacken. Regen, sagte ich mir mit letzter Verstandeskraft, bloß Regen, obwohl ich keinen Tropfen spürte. Auf der anderen Seite des Waldes gellte ein Schrei, ein schrilles, geistloses Geräusch.
    Los, Adam, schnell, schneller –
    Die Dunkelheit vor mir veränderte sich, wurde dichter. Ein Geräusch ertönte, wie Wind in den Blättern, ein kräftiger, rauschender Wind bahnte sich durch den Wald eine Schneise. Ich dachte an die Taschenlampe in meiner Hand, aber meine Finger waren wie erstarrt. Ich spürte, wie der Goldfaden ruckte und zerrte. Irgendwo auf der anderen Seite der Lichtung atmete etwas, etwas Großes.
    Unten am Fluss. Rutschend zum Stehen; Weidenäste schwanken, und das Wasser feuert Lichtsplitter ab, wie Millionen winziger Spiegel, blendend, schwindelerregend. Augen, golden und gefranst, wie die einer Eule.
    Ich rannte. Ich krabbelte aus dem Schlafsack, der mich festhalten wollte, und warf mich in den Wald, weg von der Lichtung. Brombeerzweige krallten nach meinen Beinen und Haaren, Flügelschläge explodierten in meinem Ohr. Ich prallte mit der Schulter geradewegs gegen einen Baum, dass mir die Luft wegblieb. Unsichtbare Senken und Löcher öffneten sich jäh unter meinen Füßen, und ich konnte nicht schnell genug laufen, meine Beine brachen knietief durchs Unterholz, es war, als würde

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