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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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kaum die Möglichkeit in Betracht zog, dass Cassie die schlichte, reine Wahrheit gesagt hatte. Schließlich hatte ich nie erlebt, dass sie mich oder jemand anderen belog, und ich kann nicht sagen, warum ich plötzlich mit solcher Gewissheit davon ausging, dass sie zur Lügnerin geworden war. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass sie nicht deshalb unglücklich war, weil ihre Liebe nicht erwidert wurde, sondern weil sie ihren besten Freund verlor – denn der war ich, wie ich ohne Selbstbetrug sagen kann.
    Es klingt vielleicht arrogant, als hielte ich mich für einen unwiderstehlichen Casanova, aber ich glaube wirklich nicht, dass es so einfach war. Schließlich hatte ich Cassie nie zuvor so erlebt. Ich hatte sie nie weinen sehen, und die Male, die ich sie ängstlich gesehen hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Aber jetzt waren ihre Augen verquollen und wirkten blutunterlaufen unter dem unbeholfenen, trotzigen Make-up, und jedes Mal, wenn sie mich ansah, schien in ihnen ein furchtsamer und verzweifelt flehender Ausdruck auf. Was sollte ich da denken? Rosalinds Worte – dreißig, kann es sich nicht leisten zu warten – gingen mir nicht aus dem Kopf.
    Ich hatte immer gedacht, Cassie wäre eine Million Meilen weit entfernt von solchen Frauenromanklischees, aber andererseits ( manchmal übersieht man bei einem Menschen, dem man nahe ist, schon mal gewisse Dinge ) hatte ich auch angenommen, wir wären die Ausnahme von jeder Regel, und Sie sehen ja, was daraus geworden ist. Ich hatte nicht die Absicht, selbst ein Klischee zu werden. Aber bedenken Sie, nicht nur Cassies Leben war völlig aus den Fugen geraten, auch ich war unsicher und durcheinander und bis ins Mark erschüttert, und ich hielt mich an den einzigen Richtlinien fest, die ich finden konnte.
    Außerdem hatte ich früh gelernt, dass tief im Innern von allem, was ich liebte, etwas Dunkles und Tödliches verborgen sein konnte. Als ich es nicht fand, reagierte ich verwirrt und argwöhnisch auf die einzige mir bekannte Art und Weise: Ich pflanzte es selbst dort ein.
    Heute scheint klar, dass selbst der stärkste Mensch seine Schwachstellen hat und dass ich Cassies haargenau und mit voller Wucht getroffen hatte. Sicher wird sie manchmal an ihre Namensschwester gedacht haben, Kassandra, die von Apoll mit dem besonders einfallsreichen und sadistischen Fluch belegt wurde, dass ihr niemand glauben würde, wenn sie die Wahrheit sagte.

    Sam kreuzte spät am Montagabend bei mir zu Hause auf, gegen zehn. Ich war nur kurz aufgestanden, um mir einen Toast zu machen, und schon halb wieder eingeschlafen, als es klingelte. Mich durchfuhr ein irrationaler Schreck, es könnte Cassie sein, vielleicht leicht betrunken, um sich mit mir auszusprechen. Als Heather genervt an meine Tür klopfte und rief: »Für dich, ein Typ namens Sam«, war ich so erleichtert, dass ich eine Sekunde brauchte, bis ich kapierte, wer gemeint war. Sam war noch nie bei mir gewesen. Ich hätte nicht mal gedacht, dass er überhaupt wusste, wo ich wohnte.
    Ich ging an die Tür, stopfte das Hemd in die Hose und horchte, wie er die Treppe hochgestiefelt kam. »Hi«, sagte ich, als er oben war.
    »Hallo«, sagte er. Ich hatte ihn seit Freitagmorgen nicht gesehen. Er trug seinen Tweedmantel, war unrasiert, und das ungewaschene Haar fiel ihm in langen feuchten Strähnen in die Stirn.
    Ich wartete einen Moment, aber als er keine Erklärung lieferte, warum er gekommen war, führte ich ihn ins Wohnzimmer. Heather folgte uns und plapperte gleich los – Hi, ich bin Heather, schön, dich kennenzulernen, wo hat Rob dich nur die ganze Zeit versteckt, aber er lädt ja nie mal jemanden hierher ein, nicht gerade die feine Art, und ich guck gerade The Simple Life , kennst du die Serie, die letzte Staffel ist echt der Wahnsinn, und so weiter und so weiter. Schließlich deutete sie unsere einsilbigen Antworten richtig. Mit einem beleidigten Unterton sagte sie: »Na, ich schätze, ihr Jungs wollt ein bisschen unter euch sein«, und als keiner von uns beiden verneinte, schenkte sie Sam ein warmes, mir ein etwas kühleres Lächeln und trollte sich.
    »Tschuldige, dass ich hier einfach so reinplatze«, sagte Sam. Er sah sich im Zimmer um (aggressive Designersofakissen, Regale voller Porzellantiere mit langen Wimpern), als traue er seinen Augen nicht.
    »Macht nichts«, sagte ich. »Willst du was trinken?« Ich konnte mir nicht denken, was er wollte. Ich verdrängte die unerträgliche Möglichkeit, er könnte wegen Cassie

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