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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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sagte ich. Das Gespräch frustrierte mich allmählich. Er war ein großer, ernster, bekümmerter Bernhardiner, der mitten in einem Schneesturm, in dem jeder mühselige Schritt vollkommen sinnlos war, tapfer versuchte, seine Pflicht zu tun. »Ich halte nichts vom Märtyrertum.«
    »So seh ich mich auch nicht.« Sam griff müde nach seinem Glas. »Aber ich versteh schon, was du meinst. Ich soll die Sache auf sich beruhen lassen.«
    »Ich weiß nicht, was du tun sollst«, sagte ich. Eine Welle von Erschöpfung und Übelkeit erfasste mich. Du meine Güte, dachte ich, was für eine Woche. »Ich bin vermutlich der Letzte, den du fragen solltest. Ich sehe jedenfalls keinen Sinn darin, wenn du dein Haus und deine Karriere in den Wind schießt, wo keiner was davon hat. Du hast schließlich nichts Unrechtes getan. Stimmt’s?«
    Sam sah mich an. »Stimmt«, sagte er leise und verbittert. »Ich hab nichts Unrechtes getan.«

    Nicht nur Cassie nahm ab. Ich hatte seit über einer Woche nichts Richtiges mehr gegessen, und ich hatte schon beim Rasieren gemerkt, dass ich den Rasierer in neue kleine Vertiefungen an den Wangen manövrieren musste. Doch erst als ich an dem Abend meinen Anzug auszog, merkte ich, wie weit er mir um den Körper schlotterte. Die meisten Detectives nehmen während einer großen Ermittlung ein wenig ab oder zu – bei Sam und O'Gorman bildete sich um die Leibesmitte herum langsam ein kleines Polster, vom vielen Junkfood zwischendurch –, und nur weil ich recht groß bin, fällt es bei mir selten auf, aber wenn dieser Fall sich noch länger hinzog, würde ich mir wohl neue Anzüge zulegen müssen.
    Was nicht einmal Cassie weiß: Mit zwölf Jahren war ich ein dickes Kind. Nicht eins von diesen schwabbeligen Kindern, die man in moralisierenden Dokusendungen über die zunehmende Fettleibigkeit der heutigen Jugend die Straße entlangwatscheln sieht. Auf Fotos sehe ich einfach kräftig aus, ein wenig mollig vielleicht, groß für mein Alter und entsetzlich verlegen, aber ich kam mir monströs und verloren vor: Mein eigener Körper hatte mich verraten. Ich war in die Höhe geschossen und aus der Form geraten, bis ich mich selbst nicht mehr erkannte, ein Witz auf zwei Beinen. Da half es auch nicht gerade, dass Peter und Jamie genauso aussahen wie immer: längere Beine okay, keine Milchzähne mehr, aber noch immer schlank und leicht und unbesiegbar wie eh und je.
    Meine mollige Phase dauerte nicht lange: Das Essen im Internat war so ungenießbar, dass selbst Kinder, die keinen seelischen Knacks und kein Heimweh hatten und nicht schnell wuchsen, größte Mühe gehabt hätten, so viel zu essen, dass sie zugenommen hätten. Und ich aß praktisch nichts, im ersten Jahr. Am Anfang musste ich so lange am Tisch sitzen bleiben, manchmal mehrere Stunden, bis ich ein paar Bissen heruntergewürgt hatte. Nach einer Weile ließ ich das Essen vom Teller heimlich in einer Plastiktüte verschwinden und spülte es später im Klo runter. Es war wohl ein instinktiver Appell: Ich bin sicher, ich glaubte fest daran, wenn ich ganz lange nur ganz wenig essen würde, bekäme ich Peter und Jamie wieder zurück, und alles wäre wieder normal. Zu Beginn meines zweiten Jahres auf dem Internat war ich groß und schlaksig, wie es Dreizehnjährige sein sollen.
    Ich weiß nicht genau, warum ausgerechnet das mein bestgehütetes Geheimnis sein soll. Ich glaube, der Grund ist folgender: Ich habe mich immer gefragt, ob ich deshalb übrig geblieben bin, an dem Tag im Wald. Weil ich dick war; weil ich nicht schnell genug laufen konnte; weil ich, plump, wie ich war, kein gutes Gleichgewichtsgefühl hatte und mich deshalb nicht traute, von der Burgmauer zu springen. Manchmal denke ich an die versteckte wankelmütige Trennlinie zwischen Verschontwerden und Abgelehntwerden. Manchmal denke ich an die alten Götter, die furcht- und makellose Opfer verlangten, und ich frage mich, ob ich damals vielleicht nicht gut genug war, als Peter und Jamie mitgenommen wurden, von wem oder was auch immer.

19
    AM DIENSTAGMORGEN FUHR ICH als Erstes mit dem Bus nach Knocknaree, um endlich meinen Wagen zu holen. Hätte ich die Wahl gehabt, ich hätte am liebsten nie wieder im Leben auch nur einen Gedanken an Knocknaree verschwendet, aber ich war es leid, in überfüllten, nach Schweiß riechenden S-Bahn-Zügen zur Arbeit und wieder nach Hause zu fahren, und ich musste möglichst bald einen Großeinkauf im Supermarkt erledigen, ehe Heather einen Koller bekam.
    Mein Wagen stand

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