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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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beruhigen können.«
    Sam antwortete nicht. Ich blickte ihn an. Er war fast grün im Gesicht.
    »Was hast du?«, fragte ich alarmiert. »Alles in Ordnung?«
    »Alles bestens«, sagte er. »Klar.« Er beugte sich vor und schaltete den Rekorder aus. Seine Hand zitterte ein wenig, und ich sah einen klammen, ungesunden Glanz in seinem Gesicht.
    »Hör mal«, sagte ich. »Dir geht’s alles andere als bestens.« Plötzlich kam mir die Befürchtung, er könnte vor Aufregung über seinen Triumph einen Herzinfarkt oder so was bekommen haben. Im Dezernat kursierte so manche Geschichte über Kollegen, die einen Verdächtigen nach kompliziertesten Ermittlungen endlich überführten, und kaum, dass die Handschellen klickten, tot umfielen. »Brauchst du einen Arzt oder so?«
    »Nein«, sagte er scharf. »Nein.«
    »Was hast du denn?«
    Sobald ich die Frage gestellt hatte, fiel der Groschen. Eigentlich hätte ich sofort drauf kommen müssen. Das Timbre der Stimme, der Akzent, die seltsame Modulation: Das alles hatte ich schon mal gehört, jeden Tag, jeden Abend; ein bisschen weicher, nicht ganz so schroff, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.
    »War das«, sagte ich, »war das dein Onkel?«
    Sams Augen huschten zu mir und dann zur Tür, aber es kam niemand. »Ja«, sagte er. »Stimmt.« Er atmete schnell und flach.
    »Bist du sicher?«
    »Ich kenne seine Stimme. Ich bin sicher.«
    So grausam das auch war, aber ich hätte am liebsten laut losgelacht. Er war die ganze Zeit so verdammt eifrig bei der Sache gewesen, so bierernst. Anfangs hatte ich das richtig sympathisch gefunden – diese Art von absolutem Glauben kann man, wie die Jungfräulichkeit, nur einmal verlieren, und ich hatte noch nie jemanden getroffen, der sie sich bis in die Dreißiger bewahrt hatte. Aber mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass Sam auf fast all seinen Wegen vom Glück begünstigt worden war, und es fiel mir schwer, dafür Mitleid aufzubringen, dass er endlich doch mal auf einer Bananenschale ausgerutscht und auf die Schnauze gefallen war.
    »Was willst du jetzt machen?«, fragte ich.
    Im Licht der Neonlampen wackelte er blind mit dem Kopf. Bestimmt war ihm der Gedanke gekommen: Wir zwei waren allein, eine Gefälligkeit meinerseits und einmal die Aufnahmetaste gedrückt, und der Anruf hätte die sonntägliche Runde Golf behandeln können oder sonst was.
    »Lässt du mir das Wochenende Zeit?«, fragte er. »Am Montag geh ich damit zu O'Kelly. Aber ... nicht jetzt sofort. Ich kann nicht klar denken. Ich brauche das Wochenende.«
    »Kein Problem«, sagte ich. »Willst du mit deinem Onkel reden?«
    Sam sah mich an. »Dann würde er bloß anfangen, Spuren zu verwischen, oder? Belastende Beweise verschwinden lassen, ehe gegen ihn ermittelt wird.«
    »Da könntest du recht haben.«
    »Wenn ich ihm nichts sage – wenn er rausfindet, dass ich ihn hätte warnen können und es nicht getan habe ...«
    »Tut mir leid«, sagte ich. Ich fragte mich flüchtig, wo zum Teufel Cassie blieb.
    »Weißt du, was verrückt ist?«, sagte Sam nach einer Weile. »Wenn du mich heute Morgen gefragt hättest, mit wem ich reden würde, wenn so etwas wie jetzt passiert ist und ich nicht weiß, was ich machen soll, dann hätte ich gesagt, mit Red.«
    Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich blickte in sein argloses, freundliches Gesicht und fühlte mich auf einmal seltsam losgelöst von ihm, von der ganzen Szene. Es war ein schwindelerregendes Gefühl, als würde sich das alles hier in einem beleuchteten Kasten hundert Meter unter mir abspielen. Wir saßen lange einfach nur da, bis O’Gorman hereingepoltert kam und irgendwas über Rugby faselte und Sam die Kassette ruhig in die Tasche steckte, seine Sachen einsammelte und ging.

    Als ich am Nachmittag nach draußen ging, um eine zu rauchen, folgte Cassie mir.
    »Hast du Feuer?«, fragte sie.
    Sie hatte abgenommen, ihre Wangenknochen traten schärfer hervor, und ich fragte mich, ob das von mir unbemerkt im Laufe der gesamten Ermittlung passiert war oder – ein Gedanke, bei dem mich ein ungutes Kribbeln durchlief – erst in den letzten paar Tagen. Ich holte mein Feuerzeug aus der Tasche und gab es ihr.
    Es war ein kalter, bewölkter Nachmittag, dürres Laub sammelte sich an den Mauern. Cassie drehte sich mit dem Rücken zum Wind, um ihre Zigarette anzuzünden. Sie war geschminkt – Mascara, ein Hauch Rouge auf den Wangen –, aber ihr über das Feuerzeug gebeugtes Gesicht war noch immer zu blass, fast grau. »Was ist

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