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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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gekommen sein: Niemals, dachte ich, sie hätte ihn niemals gebeten, mit mir zu reden, oder etwa doch?
    »Whiskey, wenn du hast.«
    Ich hatte noch eine halbe Flasche Jameson’s im Schrank. Als ich mit den Gläsern zurück ins Wohnzimmer kam, saß Sam in einem Sessel, noch immer im Mantel, den Kopf gesenkt und die Ellbogen auf den Knien. Heather hatte den Fernseher nur leise gestellt, und das flackernde Licht des Bildschirms verlieh seinem Gesicht ein gespenstisches Aussehen.
    Ich schaltete den Fernseher aus und reichte ihm ein Glas. Er blickte es irgendwie überrascht an, dann hob er es abrupt und leerte es zur Hälfte in einem Zug. Ich hatte den Verdacht, dass er schon leicht betrunken war. Er war nicht zittrig und sprach auch nicht lallend, aber seine Bewegungen und seine Stimme wirkten anders, leicht kantig und schwerfällig.
    »Also«, sagte ich dümmlich, »was liegt an?«
    Sam trank erneut einen Schluck. Der Lichtschein der Stehlampe erfasste ihn genau zur Hälfte. »Die Aufnahme, die wir Freitag gehört haben?«, sagte er.
    Ich entspannte mich ein wenig. »Ja?«
    »Ich hab nicht mit meinem Onkel gesprochen«, sagte er.
    »Nein?«
    »Nein. Ich hab das ganze Wochenende drüber nachgedacht. Aber ich hab ihn nicht angerufen.« Er räusperte sich. »Ich bin zu O'Kelly gegangen«, sagte er und räusperte sich erneut. »Heute Nachmittag. Mit der Kassette. Ich hab sie ihm vorgespielt, und dann hab ich ihm gesagt, dass der andere mein Onkel ist.«
    »Donnerwetter«, sagte ich. Ehrlich gesagt, hatte ich ihm das nicht zugetraut. Ich war richtig beeindruckt.
    »Nein«, sagte Sam. Er blinzelte das Glas in seiner Hand an, stellte es auf den Couchtisch. »Weißt du, wie er reagiert hat?«
    »Was?«
    »Er wollte wissen, ob ich noch ganz bei Trost bin.« Er lachte, ein bisschen wild. »Menschenskind, ich glaube, der Mann hat nicht ganz unrecht ... Er hat gesagt, ich soll das Band löschen, die Telefonüberwachung abblasen und Andrews in Ruhe lassen. ›Das ist ein Befehl‹, hat er gesagt. Er meinte, ich hätte nicht das geringste Indiz, dass Andrews irgendwas mit dem Mord zu tun hat, und wenn wir nicht aufpassen, würden wir wieder in Uniform gesteckt, er und ich – nicht gleich und aus keinem Grund, der irgendwas mit der Sache zu tun hat, aber irgendwann in absehbarer Zeit würden wir wieder Streife schieben, und zwar irgendwo am Arsch der Welt und bis ans Ende unserer Tage. Er sagte: ›Dieses Gespräch hat nie stattgefunden, weil es die Bandaufnahme nie gegeben hat.‹«
    Seine Stimme wurde lauter. Heathers Zimmer grenzte an das Wohnzimmer, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie ein Ohr an die Wand gepresst hatte. »Du sollst die Sache vertuschen?«, fragte ich mit bewusst leiserer Stimme, in der Hoffnung, dass Sam den Hinweis verstand.
    »Ich würde sagen, darauf läuft es hinaus, ja«, sagte er mit beißendem Sarkasmus. Der Tonfall passte nicht zu ihm, und aus seinem Mund klang es auch nicht zynisch, sondern ließ ihn furchtbar jung wirken. Er lehnte sich im Sessel nach hinten und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Damit hatte ich echt nicht gerechnet. Ich hatte mir alles Mögliche ausgemalt ... aber das nicht.«
    Wenn ich ehrlich bin, hatte ich Sams Ermittlungsrichtung nicht besonders ernst genommen. Internationale Holdingfirmen, Immobilienhaie und korrupte Grundstücksgeschäfte: Ich fand das alles ziemlich aus der Luft gegriffen, fast lächerlich, wie aus einem schlechten Film mit Tom Cruise, nichts, was irgendetwas mit dem wirklichen Leben zu tun hatte. Der Ausdruck auf Sams Gesicht traf mich unvorbereitet. Er hatte vorher nichts getrunken, ganz und gar nicht, aber der doppelte Schlag – sein Onkel, O'Kelly – hatte ihn erwischt, als wäre er von zwei Bussen überrollt worden. Da Sam nun mal Sam war, hatte er sie nicht mal auf sich zukommen sehen. Einen Moment lang wünschte ich trotz allem, ich könnte die richtigen Worte finden, um ihn zu trösten, um ihm zu sagen, dass so etwas jedem irgendwann passiert und dass er drüber wegkommen würde, wie fast jeder.
    »Was soll ich jetzt machen?«, fragte er.
    »Keine Ahnung«, sagte ich verdutzt. Zugegeben, Sam und ich waren in letzter Zeit häufig zusammen gewesen, aber deshalb waren wir noch längst keine Busenfreunde, und überhaupt war ich der Letzte, der irgendwem kluge Ratschläge geben konnte. »Ich hoffe, es klingt nicht gefühllos, aber wieso fragst du mich das?«
    »Wen denn sonst?«, sagte Sam leise. Als er mich anblickte, sah ich, dass seine Augen

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