Grabesgrün
durchgerissen war –, aber ich fühlte mich noch immer komisch, benommen, als blickten meine Augen nicht scharf genug, um das Bild richtig zu erkennen. Vielleicht brauch ich ja wirklich einen Kaffee, dachte ich. »Der Stein lag mit der blutigen Seite nach unten. Und das Gras darunter ist frisch, noch grün. Er kann also nicht lange da gelegen haben.«
»Außerdem hat sie nicht mehr geblutet, als sie hierhergeschafft wurde«, sagte Cassie.
»Ach ja – die zweite interessante Sache«, sagte Sophie. »Komm mit und sieh’s dir an.«
Ich ergab mich ins Unvermeidliche und tauchte unter der Absperrung durch. Die anderen Techniker blickten kurz auf und traten dann von der Steinplatte zurück, um uns Platz zu machen. Sie waren beide noch sehr jung, hatten wahrscheinlich gerade erst ihre Ausbildung hinter sich, und plötzlich dachte ich, wie wir auf sie wirken mussten: älter, abgehoben und so voller Erfahrung, was die Tricks und Kompromisse des Lebens anging. Irgendwie beruhigte mich das, dieses Bild von zwei Detectives des Morddezernats, deren routinierte Mienen nichts verrieten, während sie Schulter an Schulter und im Gleichschritt auf das tote Kind zugingen.
Sie lag zusammengerollt auf der linken Seite, als wäre sie untermalt vom friedlichen Gemurmel erwachsener Stimmen auf dem Sofa eingeschlafen. Der linke Arm war über den Rand der Platte gestreckt. Der rechte lag quer über der Brust, die Hand in einem unnatürlichen Winkel nach innen gebogen. Sie trug eine rauchblaue Cargohose, die Sorte, die an den seltsamsten Stellen Aufnäher und Reißverschlüsse hat, ein weißes T-Shirt mit einer Reihe stilisierter Kornblumen auf der Vorderseite und weiße Turnschuhe. Cassie hatte recht, alles an ihr war farblich aufeinander abgestimmt: Der volle Zopf, der quer über ihre Wange fiel, wurde von einer blauen Seidenkornblume zusammengehalten. Sie war klein und sehr zierlich, doch ein Hosenbein war hochgerutscht, und die Wade darunter sah straff und muskulös aus. Zehn bis dreizehn war wohl richtig: Ihre Brüste bildeten sich gerade erst und hoben sich kaum unter den Falten des T-Shirts ab. Um Nase und Mund und an den Enden der Schneidezähne war verkrustetes Blut. Der leichte Wind spielte mit den weichen, welligen Fransen an ihrem Haaransatz.
Die Hände steckten in durchsichtigen Plastikbeuteln, die an den Handgelenken zugebunden waren. »Sieht aus, als hätte sie sich gewehrt«, sagte Sophie. »Zwei Fingernägel sind abgebrochen. Unter den anderen werden wir wohl kaum DNA finden, so sauber wie die aussehen, aber bestimmt Fasern und Spuren an ihrer Kleidung.«
Einen Moment überwältigte mich der Wunsch, sie einfach hierzulassen, die Hände der Kriminaltechniker wegzustoßen, den wartenden Männern von der Gerichtsmedizin zuzurufen, sie sollten verschwinden. Wir hatten ihr genug abverlangt. Ihr blieb nur noch ihr Tod, und wenigstens den wollte ich ihr lassen. Ich wollte sie in weiche Decken hüllen, ihr das verklebte Haar zurückstreichen, ein Federbett aus fallenden Blättern und dem Geraschel kleiner Tiere über sie breiten. Sie dem Schlaf überlassen, wo sie auf ihrem geheimen unterirdischen Fluss auf ewig davontrieb, während lebendige Jahreszeiten über ihrem Kopf Löwenzahnsamen und Mondphasen und Schneeflocken spannen. Sie hatte so sehr versucht zu leben.
»So ein T-Shirt hab ich auch«, sagte Cassie leise neben meiner Schulter. »Kinderabteilung bei Penney’s.« Ich hatte es schon an ihr gesehen, aber ich wusste, dass sie es nie wieder tragen würde. Der Anblick dieser vergewaltigten Unschuld war zu groß und endgültig.
»Das hier wollte ich dir zeigen«, sagte Sophie forsch. Sie ist gegen jede Form von Sentimentalität oder schwarzem Humor an Tatorten. Sie sagt, so etwas sei reine Zeitverschwendung, meint aber im Grunde, dass solche Bewältigungsstrategien etwas für Weicheier sind. Sie zeigte auf die Kante des Steins. »Willst du Handschuhe?«
»Ich fass nichts an«, sagte ich und ging in die Hocke. Aus diesem Winkel konnte ich sehen, dass ein Auge des Mädchens einen Spalt offen stand, als stellte sie sich nur schlafend und wartete auf den richtigen Moment, um aufzuspringen und Buh! Reingefallen! zu rufen. Ein glänzender schwarzer Käfer krabbelte zielstrebig ihren Unterarm hinauf.
Etwa drei bis vier Zentimeter von der Kante entfernt war eine umlaufende Rille in die Steinplatte gemeißelt worden. Die Zeit und die Witterung hatten sie geglättet, doch an einer Stelle war der primitive Meißel des
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