Grabesgrün
und Hätschelei.
»Nach der Pause hat Mark zu mir gesagt, ich soll das Fundament von dem Opferstein freilegen, damit wir es uns ansehen können. Damien sagte, er will mitkommen – wir arbeiten meistens nicht allein, das ist zu langweilig. Auf halber Strecke den Hang hinauf haben wir irgendwas Blauweißes auf dem Stein gesehen. Damien hat gefragt: ›Was ist das?‹, und ich hab gesagt: ›Vielleicht hat da einer seine Jacke vergessen.‹ Als wir näher kamen, hab ich gesehen, dass es ein Kind war. Damien hat die Kleine am Arm geschüttelt und überprüft, ob sie atmet, aber man konnte sehen, dass sie tot war. Ich hab vorher noch nie eine Leiche gesehen, aber –« Sie biss sich auf die Wange, schüttelte den Kopf. »Das ist totaler Quatsch, wenn die Leute sagen: ›Ah, er sah aus, als würde er schlafen.‹ Man konnte es sehen.«
Der Tod ist heute ein Tabuthema, und wir bekämpfen ihn hysterisch mit Trendsportarten und gesunder Ernährung und Nikotinpflastern. Ich dachte an die strenge Entschlossenheit der Viktorianer, sich den Tod gegenwärtig zu machen, an die erbarmungslosen Grabsteininschriften: Bedenke, Pilger, der du vorbeischreitest, Wie du jetzt bist, so war ich einst; Wie ich jetzt bin, so wirst du sein ... Heutzutage ist der Tod uncool, altmodisch. Durch die Marktforschung wird alles stromlinienförmig zurechtgebogen, Produkte, Musikbands genau auf den Publikumsgeschmack abgestimmt. Sosehr, wie wir daran gewöhnt sind, dass die Dinge sich in das verwandeln, was wir haben wollen, empfinden wir die Begegnung mit dem Tod als zutiefst empörend, weil er sich stur gegen jede Schönfärberei wehrt, einzig und unwandelbar er selbst bleibt. Eine behütete viktorianische Jungfrau hätte nicht so verstört auf die Tote reagiert wie Mel Jackson.
»Hättet ihr die Leiche übersehen können, wenn sie gestern schon auf dem Stein gelegen hätte?«, fragte ich.
Mel blickte mit großen Augen auf. »Ach du Scheiße – soll das heißen, sie war die ganze Zeit da, als wir ...?« Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Mark und Dr. Hunt waren gestern Nachmittag auf dem ganzen Gelände unterwegs, um eine Liste zu machen, was noch alles erledigt werden muss. Sie hätten sie gesehen. Heute Morgen haben wir sie nur nicht bemerkt, weil wir alle unten am Ende des Abwassergrabens waren. Von da kann man die Steinplatte nicht sehen.«
Sie hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt, auch nicht Damiens seltsamen Unbekannten. »Wäre so oder so nicht möglich gewesen. Ich fahr nämlich nicht mit dem Bus. Die meisten von uns, die nicht aus Dublin kommen, wohnen in einem Haus, das sie für uns angemietet haben, zwei Meilen die Straße runter. Mark und Dr. Hunt haben ein Auto und fahren uns hin. Wir kommen gar nicht an der Siedlung vorbei.«
Das ›so oder so‹ ließ mich aufhorchen. Es deutete nämlich an, dass Mel genau wie ich ihre Zweifel hatte, was diesen finsteren Trainingsanzugsträger betraf. Damien kam mir wie jemand vor, der alles sagen würde, um seinem Gegenüber eine Freude zu machen. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, ihn zu fragen, ob der Bursche vielleicht Stilettos getragen hatte.
Sophie und ihre Nachwuchsmitarbeiter waren mit dem Opferstein fertig und arbeiteten sich kreisförmig nach außen. Ich sagte ihr, dass Damien Donnelly die Leiche angefasst und sich darübergebeugt hatte. Wir würden seine Fingerabdrücke und eine Haarprobe von ihm brauchen, um sie auszuschließen. »So ein Idiot«, knurrte Sophie. »Da können wir ja noch froh sein, dass er sie nicht noch mit seiner Jacke zugedeckt hat.« Sie schwitzte in ihrem Overall. Der junge Techniker hinter ihr riss unauffällig ein Blatt aus seinem Skizzenbuch und fing von vorn an.
Wir ließen den Wagen stehen und gingen die Straße entlang zur Siedlung (irgendwo in meinen Muskeln erinnerte ich mich noch, wie ich über die Mauer geklettert war: wo man gut die Füße aufsetzen konnte, das Schaben von Beton an meinem Knie, die harte Landung). Cassie wollte unterwegs in den Laden. Es war schon gut nach zwei Uhr, und in absehbarer Zeit würden wir kaum Gelegenheit zum Essen haben. Cassie verdrückt Mengen wie ein halbwüchsiger Junge, und sie wird unleidlich, wenn sie eine Mahlzeit verpasst, was ich normalerweise mag – Frauen, die bloß genau abgewogene Salatportionen zu sich nehmen, gehen mir auf die Nerven –, aber ich wollte den Tag so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Ich wartete vor dem Laden und rauchte eine Zigarette, bis Cassie mit zwei
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