Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
Sandwiches in Plastikverpackung wieder herauskam und mir eines reichte. »Iss.«
    »Ich hab keinen Hunger.«
    »Iss das verdammte Sandwich, Ryan. Ich schlepp dich nicht nach Hause, wenn du umkippst.« Ich bin ehrlich noch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden, aber ich vergesse manchmal zu essen, bis ich reizbar werde oder das Gefühl kriege, neben mir zu stehen.
    »Ich hab gesagt, ich hab keinen Hunger«, sagte ich und hörte selbst, wie quengelig ich klang. Ich packte das Sandwich aus. Cassie hatte recht, es würde wahrscheinlich ein langer Tag werden. Wir setzten uns auf die Bordsteinkante, und sie zog eine Flasche Cola aus ihrer Tasche. Das Sandwich war angeblich mit Hühnchenbrust belegt, aber es schmeckte nach Plastik, und die Cola war zu süß. Mir wurde leicht übel.
    Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als hätte das Erlebnis damals in Knocknaree mein Leben ruiniert, als hätte ich als eine Art tragische Gestalt mit einer traumatischen Vergangenheit zwanzig Jahre lang durch einen bittersüßen Vorhang aus Zigarettenrauch und Erinnerungen traurig lächelnd auf die Welt geblickt. Knocknaree hatte mir keine nächtlichen Albträume beschert oder Impotenz oder eine krankhafte Angst vor Bäumen oder irgend so ein anderes hübsches Symptom, das mich in einer Fernsehverfilmung meiner Geschichte irgendwann in die Therapie getrieben hätte, aus der ich dann befreit und mit einer kommunikativeren Beziehung zu meiner liebevollen, aber frustrierten Ehefrau hervorgegangen wäre. Ehrlich gesagt, ich dachte manchmal monatelang überhaupt nicht daran. Manchmal brachte eine Zeitung einen Beitrag über vermisste Personen, und auf einmal waren sie da, Peter und Jamie, lächelten mich von grobkörnigen Fotos, die im Rückblick und durch Überbeanspruchung irgendwie unheilvoll wirkten, zwischen verschwundenen Touristen und durchgebrannten Hausfrauen an. Dann las ich den Artikel und registrierte beiläufig, dass meine Hände zitterten und ich schlecht Luft bekam, aber das war ein rein körperlicher Reflex und dauerte ohnehin nur wenige Minuten.
    Ganz bestimmt hatte das Erlebnis irgendwelche Auswirkungen auf mich, aber es wäre unmöglich gewesen – und, wie ich finde, sinnlos – herauszufinden, welche genau. Schließlich war ich damals zwölf, ein Alter, in dem Kinder unsicher und formbar sind, sich von einem Tag auf den anderen verwandeln, auch wenn ihr Leben noch so stabil ist. Und wenige Wochen darauf kam ich aufs Internat, was mich wesentlich einschneidender und offensichtlicher prägte und fürs Leben zeichnete. Es käme mir naiv und irgendwie auch billig vor, die verschiedenen Stränge meiner Persönlichkeit zu entwirren, einen davon hochzuhalten und zu kreischen: Meine Güte, seht nur, der hier ist aus Knocknaree! Aber auf einmal war es wieder da, tauchte ganz plötzlich blasiert und unerschütterlich mitten in meinem Leben auf, und ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte.
    »Das arme Kind«, sagte Cassie unvermittelt, aus heiterem Himmel. »Das arme, arme Kind.«

    Die Devlins wohnten in einer Doppelhaushälfte mit einem kleinen Rasen davor, genau wie alle anderen in der Siedlung. Sämtliche Nachbarn hatten sich eifrig bemüht, mit radikal gestutzten Büschen oder Geranien ein bisschen Individualität zu bekunden, doch die Devlins mähten bloß ihren Rasen und beließen es dabei, was an sich schon wieder eine gewisse Originalität signalisierte. Sie wohnten mitten in der Siedlung, etliche Straßen von der Ausgrabungsstätte entfernt, sodass sie weder die Polizeiautos gesehen hatten noch die Kriminaltechnik noch den Leichenwagen noch das ganze schreckliche, effiziente Getriebe, das ihnen auf einen Blick alles verraten hätte, was sie wissen mussten.
    Auf Cassies Klingeln öffnete ein etwa vierzigjähriger Mann die Tür. Er war etwas kleiner als ich, hatte einen leichten Bauchansatz, akkurat geschnittenes Haar und dunkle Ringe unter den Augen. Er trug eine Strickjacke und Khakihose und hielt eine Schüssel Cornflakes in der Hand, und ich hätte ihm gerne gesagt, dass das in Ordnung war. Ich wusste nämlich bereits etwas, was er erst in den kommenden Monaten lernen würde: Solche Erinnerungen können Menschen ein Leben lang quälen – dass sie gerade Cornflakes aßen, als die Polizei kam, um ihnen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter zu überbringen. Ich habe einmal erlebt, wie eine Frau haltlos schluchzend im Zeugenstand zusammenbrach, als sie erzählte, dass sie beim Yoga war, als ihr

Weitere Kostenlose Bücher