Grabesgrün
Cassie breitete den Obduktionsbericht samt Fotos auf dem Couchtisch aus, eine alte, mit Bienenwachs glänzendpolierte Holztruhe, setzte sich auf den Boden und fing an, hin und her zu blättern, während sie mit der anderen Hand Kirschen aus einer Obstschale aß. Ich beobachte Cassie unheimlich gern, wenn sie sich voll auf etwas konzentriert. Dann ist sie so in ihre Welt versunken wie ein Kind – zwirbelt mit den Fingern eine Locke am Hinterkopf, zieht die Beine mühelos in unmöglichen Winkeln an, kaut ausgiebig auf dem Bleistift und zieht ihn abrupt wieder raus, um irgendwas vor sich hin zu murmeln.
»Während wir auf unsere Hellseherin da drüben warten«, sagte ich zu Sam – Cassie zeigte mir, ohne aufzusehen, den Mittelfinger – »wie war dein Tag?«
Sam spülte die Teller mit geübter Junggeselleneffizienz ab. »Lang. Telefonate mit endloser Warteschleifenmusik und zig Beamte, die mich immerzu weiterverbunden haben, bis ich auf irgendeiner Mailbox gelandet bin. Wird nicht einfach rauszufinden, wem das Land gehört. Ich hab meinen Onkel gefragt, ob diese Schnellstraßengegner irgendwas bewegt haben.«
»Und?«, fragte ich, bemüht, nicht allzu zynisch zu klingen. Nicht dass ich etwas gegen Redmond O’Neill im Besonderen gehabt hätte – ich hatte nur ein vages Bild von einem kräftigen, rotbackigen Mann mit vollem silbergrauen Haar, aber mehr auch nicht –, aber ich begegne Politikern jedweder Couleur mit tiefem Misstrauen.
»Er hat gesagt, nein. Im Grunde sind sie bloß lästig, meint er –« Cassie blickte hoch und hob eine Augenbraue. »Ich gebe nur wieder, was er gesagt hat. Sie waren ein paarmal vor Gericht, um den Bau zu stoppen. Die genauen Daten muss ich noch raussuchen, aber Red sagt, die Anhörungen waren Ende April, Anfang Juni und Mitte Juli. Das passt zeitlich zu den Anrufen bei Jonathan Devlin.«
»Offenbar hat irgendwer gedacht, die sind mehr als nur lästig«, sagte ich.
»Beim letzten Mal hat die Initiative eine einstweilige Verfügung erwirkt. Aber Red sagt, die wird bei der Berufung wieder aufgehoben. Er macht sich keine Gedanken.«
»Na, da sind wir aber froh«, sagte Cassie zuckersüß.
»Diese Schnellstraße wird einiges bewirken, Cassie«, erwiderte Sam freundlich. »Es entstehen neue Häuser, neue Arbeitsplätze –«
»Davon bin ich überzeugt. Aber das könnte sie doch auch ein paar hundert Meter weiter rechts oder links.«
Sam schüttelte den Kopf. »Da kann ich natürlich nichts zu sagen. Ich versteh nichts davon. Im Gegensatz zu Red, und er sagt, sie wird dringend benötigt.«
Cassie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber ich sah das Funkeln in ihren Augen.
»Hör auf zu stänkern und fang endlich an zu profilern.«
»Okay«, sagte sie, und wir gingen mit dem Kaffee zu ihr. »Am auffälligsten finde ich, dass der Bursche nicht so richtig mit dem Herzen dabei war.«
»Was?«, sagte ich. »Maddox, er hat ihr zweimal eins über den Schädel gegeben und sie dann erstickt. Sie war sehr, sehr tot. Wenn er es nicht ernst gemeint hätte –«
»Nein, warte doch mal«, sagte Sam. »Lass Cassie ausreden.« Bei unseren Amateur-Profiler-Besprechungen spiele ich immer den Advocatus Diaboli, und Cassie ist durchaus in der Lage, mich zum Schweigen zu bringen, wenn ich übertreibe, aber so bewundernswert ich Sams eingefleischtes, altmodisches Kavaliersverhalten auch finde, manchmal ist es ein bisschen nervig. Cassie warf mir einen amüsierten Blick zu und lächelte ihn an.
»Danke, Sam. Was ich sagen wollte ist: Seht euch mal den ersten Schlag an. Das war bloß ein Klaps, der sie kaum umgehauen, geschweige denn bewusstlos gemacht hat. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, bewegte sich nicht, er hätte ihr den Schädel einschlagen können, aber er hat’s nicht getan.«
»Er wusste nicht, wie viel Kraft er einsetzen musste«, sagte Sam. »Er hatte so was noch nie gemacht.« Er klang unzufrieden. Es mag sich gefühlskalt anhören, aber uns ist es oft lieber, wenn die Spuren auf einen Serientäter hindeuten. Dann gibt es nämlich andere Fälle, um Vergleiche anzustellen, und mehr verknüpfbare Spuren. Wenn unser Mann ein Ersttäter war, fiel das alles weg.
»Cass?«, sagte ich. »Glaubst du, er war noch Jungfrau?« Als ich es aussprach, merkte ich, dass ich nicht wusste, welche Antwort mir lieber wäre.
Sie nahm nachdenklich eine Kirsche, die Augen auf die Unterlagen gerichtet, aber ich sah ihre Lider flattern: Sie wusste, was ich da fragte. »Ich bin mir nicht sicher.
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