Grabesgrün
Er hat das nicht oft gemacht oder nicht in letzter Zeit, sonst wäre er nicht so zögerlich gewesen. Aber er könnte es vor einer ganzen Weile schon mal gemacht haben. Eine Verbindung zu dem alten Fall ist nicht ausgeschlossen.«
»Für einen Serientäter ist eine Pause von zwanzig Jahren aber ziemlich ungewöhnlich«, wandte ich ein.
»Na ja«, sagte Cassie, »diesmal hat er es jedenfalls äußerst ungern getan. Sie wehrt sich, er presst ihr eine Hand auf den Mund, er schlägt erneut zu, vielleicht als sie wegkriechen will oder so, und nach dem Schlag ist sie bewusstlos. Aber anstatt weiter mit dem Stein auf sie einzuschlagen – und sie haben schließlich gekämpft, das Adrenalin muss ihm zu den Ohren rauskommen –, lässt er ihn fallen und erstickt sie. Er erwürgt sie nicht mal, was sehr viel einfacher wäre. Nein, er benutzt eine Plastiktüte und dann noch von hinten, damit er ihr Gesicht nicht sehen muss. Er will sich von dem Verbrechen distanzieren, es soll weniger brutal wirken. Sanfter.«
Sam zog eine Grimasse.
»Oder er will kein allzu großes Blutbad anrichten«, sagte ich.
»Okay, aber warum hat er sie dann überhaupt geschlagen? Warum hat er sie nicht direkt überrumpelt und ihr die Tüte über den Kopf gestülpt? Ich glaube, er wollte sie bewusstlos haben, um nicht sehen zu müssen, wie sie leidet.«
»Vielleicht war er nicht sicher, ob er überhaupt in der Lage wäre, sie zu überwältigen«, sagte ich. »Vielleicht ist er nicht sehr stark – oder tatsächlich ein Ersttäter, der nicht weiß, wie viel Kraft erforderlich ist.«
»Kann sein. Vielleicht ein bisschen von allen drei Möglichkeiten. Ich gehe davon aus, dass wir nach jemandem suchen, der keine Vorstrafen wegen Gewalttätigkeit hat – jemand, der sich nicht mal auf dem Schulhof geprügelt hat, der überhaupt nicht körperlich aggressiv wirkt – und wahrscheinlich auch keine wegen irgendwelcher Sexualdelikte. Ich glaube nicht, dass die Vergewaltigung tatsächlich ein Sexualverbrechen war.«
»Was, nur weil er einen Gegenstand benutzt hat?«, fragte ich. »Du weißt genau, dass ein paar von denen keinen hochkriegen.« Sam blinzelte erschrocken und trank einen Schluck Kaffee, um es zu überspielen.
»Klar, aber dann wäre er ... gründlicher gewesen.« Wir alle verzogen das Gesicht. »Nach dem, was Cooper gesagt hat, war es eher eine symbolische Geste: ein einziger Stoß, kein Sadismus, keine Raserei, nur ein paar Zentimeter tief, das Hymen kaum eingerissen. Und nach Eintritt des Todes.«
»Das könnte Absicht gewesen sein. Ein Nekrophiler.«
»Meine Güte«, sagte Sam und stellte den Kaffee ab.
Cassie sah sich nach ihren Zigaretten um, überlegte es sich anders und nahm eine von meinen starken. Als sie das Gesicht zur Feuerzeugflamme neigte, war ihr einen Moment lang anzusehen, wie müde und abgekämpft sie war. Ich fragte mich, ob sie in der Nacht wohl von Katy Devlin träumen würde, wie sie niedergedrückt wurde und zu schreien versuchte. »Ein Nekrophiler hätte sie länger bei sich behalten. Und es wären mit Sicherheit stärkere Spuren sexueller Gewalt festzustellen gewesen. Nein, er wollte es nicht tun. Er hat es getan, weil er musste.«
»Er hat ein Sexualverbrechen inszeniert, um uns auf die falsche Spur zu bringen?«
Cassie schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht ... In dem Fall hätte er das deutlicher betont, sie ausgezogen, sie mit gespreizten Beinen irgendwo hingelegt. Stattdessen zieht er ihr die Hose wieder an, macht den Reißverschluss zu ... Nein, ich hab eher an so was wie Schizophrenie gedacht. Die sind fast nie gewalttätig, aber wenn einer seine Medikamente nicht nimmt und gerade seine paranoide Phase hat, da kann man nie wissen. Er könnte aus irgendwelchen ureigenen Gründen geglaubt haben, sie müsste getötet und vergewaltigt werden, auch wenn er das gar nicht tun wollte. Das würde erklären, warum er sie nicht leiden lassen wollte, warum er einen Gegenstand benutzt hat, warum es nicht richtig nach einem Sexualverbrechen aussah – er wollte sie nicht entblößen, und er wollte nicht, dass man ihn für einen Vergewaltiger hält –, sogar, warum er sie auf den Altar gelegt hat.«
»Inwiefern?« Ich nahm die Zigarettenpackung zurück und hielt sie Sam hin, der aussah, als könnte er eine vertragen, aber er schüttelte den Kopf.
»Ich meine, er hätte sie im Wald oder sonst wo ablegen können, wo sie jahrelang nicht gefunden worden wäre, oder er hätte sie einfach vergraben können. Stattdessen hat
Weitere Kostenlose Bücher