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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass du versuchst, dich zu erinnern, wann du den Mann gesehen hast, damit wir rausfinden können, ob er sie getötet hat. Kannst du das versuchen?«
    Jessicas Mund klappte ein wenig auf. Ihre Augen waren unerreichbar, weggetreten.
    »Sie hat mir erzählt«, sagte Rosalind leise über ihren Kopf hinweg, »es war ein oder zwei Wochen davor ...« Sie schluckte. »An den genauen Tag erinnert sie sich nicht.«
    Ich nickte. »Vielen, vielen Dank, Jessica«, sagte ich. »Du warst sehr tapfer. Meinst du, du würdest den Mann wiedererkennen, wenn du ihn siehst?«
    Nichts. Keine Reaktion. Das Zuckertütchen lag lose in ihren gekrümmten Fingern. »Ich glaube, wir müssen gehen«, sagte Rosalind mit einem besorgten Blick auf ihre Armbanduhr.
    Vom Fenster aus sah ich zu, wie sie die Straße hinuntergingen: Rosalinds entschlossene kleine Schritte und der sanfte Schwung ihrer Hüften, während sie Jessica an der Hand hinter sich herzog. Ich betrachtete Jessicas hängenden seidigen Kopf und musste an die alten Geschichten denken, in denen einem Zwilling etwas zustößt und der andere meilenweit entfernt die Schmerzen empfindet. Ich fragte mich, ob es in der lustigen Mädchennacht bei Tante Vera einen Moment gegeben hatte, in dem sie einen leisen, unbemerkten Laut ausgestoßen hatte. Ob all die Antworten, nach denen wir suchten, hinter den seltsamen dunklen Toren ihrer Seele verborgen lagen.
    Sie sind genau der Richtige für diesen Fall, hatte Rosalind zu mir gesagt, und die Worte hallten mir durch den Kopf, während ich ihr nachsah. Noch heute frage ich mich, ob die späteren Ereignisse bewiesen haben, dass sie recht hatte oder dass sie vollkommen und schrecklich falschlag, und nach welchen Kriterien man das überhaupt beurteilen könnte.

10
    IN DEN NÄCHSTEN TAGEN suchte ich praktisch von früh bis spät nach dem geheimnisvollen Mann im Trainingsanzug. Auf sieben Männer in Knocknaree und Umgebung passte die Beschreibung – groß, kräftige Statur, über dreißig, Glatze oder kahl geschoren. Einer davon hatte ein kleines Vorstrafenregister aus wilden Jugendjahren: Besitz von Haschisch, Exhibitionismus – mein Herz machte einen Sprung, als ich das sah, aber wie sich herausstellte, war er lediglich von einem übereifrigen Streifenpolizisten in einer Gasse beim Pinkeln erwischt worden. Zwei der Männer sagten, dass sie zu dem Zeitpunkt, den Damien uns genannt hatte, zu Fuß von der Arbeit zurück in die Siedlung unterwegs gewesen sein könnten, wussten es aber nicht genau.
    Keiner von ihnen gab zu, mit Katy gesprochen zu haben. Alle hatten mehr oder weniger überzeugende Alibis für die Tatnacht. Keiner hatte eine Tochter, die Ballett machte und sich das Bein gebrochen hatte, oder irgendein anderes erkennbares Motiv. Ich ließ Fotos von ihnen machen und legte sie Damien und Jessica vor, doch beide starrten nur mit dem gleichen verwirrten und gehetzten Blick auf die Konterfeis. Damien sagte schließlich, der Mann, den er gesehen hatte, sei nicht dabei, während Jessica immer wieder zaghaft auf ein anderes Foto zeigte und schließlich überhaupt nicht mehr auf meine Fragen reagierte. Ich schickte zwei Fahnder los, die alle Leute in der Siedlung befragten, ob sie jemanden zu Besuch gehabt hatten, auf den die Beschreibung passte: nichts.
    Zwei der Männer hatten keinen Nachweis für ihr Alibi. Der eine gab an, er sei bis drei Uhr morgens im Internet gewesen, in einem Chatroom für Motorradfreaks. Der zweite sagte, er habe ein Date in der Stadt gehabt, dann den Nachtbus um halb eins verpasst und in einem Burger King auf den nächsten Bus um zwei gewartet. Ich heftete Fotos der beiden an die Tafel und versuchte, die Alibis zu widerlegen, doch jedes Mal, wenn ich sie ansah, erfasste mich das gleiche Gefühl, ein eigenartiges und beunruhigendes Gefühl, das ich zunehmend mit dem ganzen Fall in Verbindung brachte: dass sich nämlich meinem Willen ständig ein anderer entgegenstellte, schlau und verbissen und mit ganz eigenen Zielen.

    Sam war der Einzige, der weiterkam. Er war ständig unterwegs, um alle möglichen Leute zu befragen – Kommunalpolitiker, sagte er, Landvermesser, Farmer, Schnellstraßengegner. Bei unseren Abendessen blieb er ausweichend, wenn wir ihn nach den Erfolgen seiner Ermittlungen fragten. »Ihr erfahrt es in ein paar Tagen«, sagte er, »wenn ich mir auf alles einen Reim machen kann.« Einmal, als er zum Klo gegangen war, warf ich einen heimlichen Blick in die Notizen auf seinem

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