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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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natürlich nicht. Die Lüge war durchsichtig – so etwas wäre ganz sicher bei unseren Hausbefragungen zur Sprache gekommen – und sie rührte mein Herz stärker an, als das eine Sonate je vermocht hätte, weil ich sie wiedererkannte. Das ist mein Zwillingsbruder, er heißt Peter und ist sieben Minuten älter als ich ... Kinder – und Rosalind war ja fast noch ein Kind – erzählen sinnlose Lügen nur dann, wenn die Wirklichkeit zu schwer zu ertragen ist.
    Fast hätte ich es in diesem Moment gesagt. Rosalind, ich weiß, dass bei euch zu Hause irgendwas im Argen liegt. Sag es mir, ich will dir helfen ... Aber es war zu früh. Sie hätte sich bloß wieder hinter ihre Schutzmauern zurückgezogen, es hätte alles zunichte gemacht, was mir bis dahin gelungen war. »Toll«, sagte ich. »Ganz schön beeindruckend.«
    Sie lachte verlegen und sah mich durch den Vorhang ihrer Wimpern hindurch an.
    »Ihre Freunde«, sagte sie schüchtern. »Die verschwunden sind. Was ist mit denen passiert?«
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. Ich hatte mich selbst in die Lage manövriert und wusste nicht, wie ich wieder aus ihr rauskommen sollte. Argwohn trat in Rosalinds Augen. Ich wollte keinesfalls ihr Vertrauen verlieren, aber ich würde ihr ganz sicher nicht die ganze Knocknaree-Saga erzählen.
    Ausgerechnet Jessica war meine Rettung. Sie bewegte sich ein wenig in ihrem Sessel, streckte einen Finger aus und berührte Rosalinds Arm.
    Rosalind schien es gar nicht wahrzunehmen. »Jessica?«, sagte ich.
    »Oh, was ist denn, Schätzchen?« Rosalind beugte sich zu ihr. »Bist du jetzt bereit, Detective Ryan von dem Mann zu erzählen?«
    Jessica nickte steif. »Ich hab einen Mann gesehen«, sagte sie, ohne mich anzublicken, die Augen fest auf Rosalind gerichtet. »Der hat mit Katy gesprochen.«
    Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wäre ich religiös gewesen, ich hätte für jeden Heiligen des Kalenders eine Kerze angezündet: Endlich eine handfeste Spur! »Das ist gut, Jessica. Wo war das?«
    »Auf der Straße. Als wir vom Laden zurückgekommen sind.«
    »Nur du und Katy?«
    »Ja. Wir dürfen das.«
    »Das glaub ich. Was hat er gesagt?«
    »Er hat gesagt« – Jessica holte tief Luft – »er hat gesagt: ›Du bist eine sehr gute Tänzerin‹, und Katy hat gesagt: ›Vielen Dank.‹ Sie mag das, wenn die Leute sagen, dass sie gut tanzen kann.«
    Sie blickte nervös zu Rosalind auf. »Du machst das prima, Schatz«, sagte Rosalind und strich ihr übers Haar. »Erzähl weiter.«
    Jessica nickte. Rosalind tippte an ihr Glas, und Jessica trank gehorsam einen Schluck von ihrem 7-Up. »Dann«, sagte sie, »dann hat er gesagt: ›Und du bist ein sehr hübsches Mädchen‹, und Katy hat gesagt: ›Vielen Dank.‹ Das mag sie nämlich auch. Und dann hat er gesagt ... er hat gesagt ... ›Meine kleine Tochter tanzt auch so gern, aber sie hat sich das Bein gebrochen. Möchtest du mitkommen und sie besuchen? Sie würde sich sehr freuen.‹ Und Katy hat gesagt: ›Das geht jetzt nicht. Wir müssen nach Hause.‹ Und dann sind wir nach Hause gegangen.«
    Du bist ein hübsches Mädchen ... Heutzutage gibt es nur sehr wenige Männer, die so etwas zu einer Zwölfjährigen sagen würden. »Weißt du, wer der Mann war?«, fragte ich. »Hast du ihn vorher schon mal gesehen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wie sah er aus?«
    Schweigen. Luftholen. »Groß.«
    »So groß wie ich?«
    »Ja ... ähm ... ja. Aber er war auch breit.« Sie hielt die Arme auseinander, und ihr Glas wackelte bedenklich.
    »Ein dicker Mann?«
    Jessica kicherte, ein durchdringender, nervöser Klang. »Ja.«
    »Was hatte er an?«
    »Einen, einen Trainingsanzug. Einen blauen.« Sie schielte zu Rosalind hinüber, die aufmunternd nickte.
    Scheiße , dachte ich. Mein Herz raste. »Was für Haare hatte er?«
    »Nee. Der hatte gar keine Haare.«
    Im Geist entschuldigte ich mich rasch und inbrünstig bei Damien. Offenbar hatte er uns doch nicht bloß erzählt, was wir hören wollten. »War er alt? Jung?«
    »So wie Sie.«
    »Und wann war das?«
    Jessicas Lippen bewegten sich lautlos. »Hä?«
    »Wann habt ihr beide den Mann getroffen? War das ein paar Tage, bevor Katy verschwunden ist? Oder ein paar Wochen? Oder ist das schon lange her?«
    Ich versuchte, behutsam zu sein, aber sie zuckte zusammen. »Katy ist nicht verschwunden«, sagte sie. »Katy ist tot.« Ihre Augen wurden glasig. Rosalind warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Ja«, sagte ich so sanft wie möglich. »Sie ist tot.

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