Grabesgrün
riesige, bequeme Sessel, die unpraktisch viel Platz einnehmen, Regale mit eigentümlichen alten Büchern mit eleganten Einbänden – und hebt sich dadurch wohltuend von der rasenden Hektik draußen auf den Straßen ab. Ich war manchmal samstags dort gewesen, um bei einem Glas Cognac eine Zigarre zu rauchen – das war vor dem Rauchverbot – und einen ganzen Nachmittag lang im Farmer’s Almanac von 1938 oder in einem Bändchen mit drittklassiger viktorianischer Lyrik zu schmökern.
Rosalind und Jessica saßen an einem Fenstertisch. Rosalind hatte ihre Lockenpracht lose zusammengebunden, und sie trug ein weißes Outfit, langer Rock mit hauchdünner Rüschenbluse, das wunderbar zum Ambiente passte. Sie sah aus, als käme sie gerade von einer Jugendstil-Gartenparty. Sie beugte sich vor, um Jessica etwas ins Ohr zu flüstern, und strich ihr dabei mit einer Hand langsam und beruhigend übers Haar.
Jessica saß im Sessel, die Beine hochgezogen, und ihr Anblick schockierte mich fast ebenso sehr wie beim ersten Mal. Die Sonne, die durch ein hohes Fenster hereinflutete, warf eine Lichtsäule auf sie und verwandelte sie in die strahlende Vision von jemand anderem, eines lebhaften und wachsamen und verlorenen Mädchens. Die fein gekrümmten Vs ihrer Augenbrauen, die Neigung der Nase, der volle kindliche Schwung der Lippen: das letzte Mal, als ich in das Gesicht gesehen hatte, lag es blutleer und grau auf Coopers Stahltisch. Jessicas Anblick war so etwas wie eine Gnadenpause, eine Eurydike, die Orpheus für einen kurzen wundersamen Augenblick aus der Dunkelheit zurückgegeben wurde. Mit einer Intensität, die mir den Atem raubte, wünschte ich mir plötzlich, einfach den Arm auszustrecken, eine Hand auf ihren weichen dunklen Kopf zu legen, sie fest an mich zu ziehen und ihren zarten und warmen und lebendigen Körper zu spüren, als könnte ich, wenn ich sie nur gut genug behütete, die Zeit zurückdrehen und auch Katy schützen.
»Rosalind«, sagte ich. »Jessica.«
Jessica zuckte zusammen und riss die Augen weit auf, und die Illusion war vorbei. Sie hielt etwas in der Hand, ein Zuckertütchen aus der Schale mitten auf dem Tisch. Sie schob sich eine Ecke in den Mund und fing an, daran zu lutschen.
Rosalind strahlte, als sie mich sah. »Detective Ryan! Ich freue mich so, Sie zu sehen. Ich weiß, das war ein bisschen kurzfristig, aber – ach, setzen Sie sich doch, setzen Sie sich ...« Ich zog einen Sessel heran. »Jessica hat etwas gesehen, das sie Ihnen erzählen möchte. Nicht wahr, Süße?«
Jessica zuckte die Achseln, ein linkisches Zappeln.
»Hi, Jessica«, sagte ich so leise und ruhig wie möglich. Meine Gedanken jagten in zig Richtungen gleichzeitig: Wenn das irgendetwas mit den Eltern zu tun hatte, dann würde ich für die Mädchen eine Unterbringungsmöglichkeit finden müssen, und Jessica wäre im Zeugenstand bestimmt ganz furchtbar ... »Ich bin froh, dass du beschlossen hast, es mir zu erzählen. Was hast du denn gesehen?«
Ihre Lippen öffneten sich. Sie schwankte ein bisschen in ihrem Sessel. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Oje ... ich hab mir gedacht, dass das passieren könnte.« Rosalind seufzte. »Also gut. Sie hat mir erzählt, dass sie gesehen hat, wie Katy –«
»Danke, Rosalind«, sagte ich, »aber ich muss es wirklich von Jessica hören. Ansonsten ist es Hörensagen, und das ist vor Gericht nicht zulässig.«
Rosalind blickte ausdruckslos, war verblüfft. Schließlich nickte sie. »Ja«, sagte sie, »natürlich, wenn es nicht anders geht, dann ... Ich hoffe bloß ...« Sie beugte sich zu Jessica vor und versuchte, ihren Blick aufzufangen, lächelte, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Jessica? Schätzchen? Du musst Detective Ryan erzählen, worüber wir gesprochen haben. Das ist wichtig.«
Jessica senkte den Kopf. »Weiß nicht mehr«, flüsterte sie.
»Komm schon, Jessica. Vorhin wusstest du es noch ganz genau, ehe wir den ganzen weiten Weg hierhergekommen sind und Detective Ryan von seiner Arbeit weggeholt haben.«
Jessica schüttelte erneut den Kopf und biss auf das Zuckertütchen. Ihre Lippen bebten.
»Ist schon gut«, sagte ich. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt. »Sie ist nur ein bisschen nervös. Sie macht eine schwere Zeit durch. Nicht wahr, Jessica?«
»Wir machen beide eine schwere Zeit durch«, sagte Rosalind frustriert, »aber eine von uns muss sich mal wie eine Erwachsene benehmen und nicht wie ein dummes kleines Mädchen.« Jessica schien in ihrem
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