Grabeskaelte
zu Fuß zu gehen. Einen Schirm hatte er sich jedoch für alle Fälle mitgenommen.
Kurz vor fünfzehn Uhr hatte er sein Ziel, das Goethegymnasium, erreicht. Aus angemessener Entfernung beobachtete er, wie sich nach und nach eine schnell größer werdende Gruppe um eine ältere, dunkelhaarige Dame scharte. Jeder Neuankömmling wurde mit lautem, fröhlichen Hallo begrüßt. Nach einer Weile bewegte die ausgelassene Gesellschaft – Henning schätzte sie auf ungefähr dreißig Personen – sich in Richtung Schule. Eine geschlagene Dreiviertelstunde musste Henning warten, bis das Eingangsportal sich erneut öffnete und Coras ehemalige Klassenkameraden wieder freigab. Uwe Siebert war nicht unter den Anwesenden, Henning hatte es nicht anders erwartet. In einigen Metern Abstand folgte er der bunt zusammengewürfelten Runde zur Schlossgaststätte. Die Speisekarte, die außerhalb gut sichtbar aushing und wie er feststellte gutbürgerliches Essen zu bieten hatte, studierend, ließ er eine Viertelstunde verstreichen. Dann betrat auch er das Restaurant, von dem ein geschmackvoll gediegenes Ambiente ausging. Als er an der Theke, die sich nahe der Eingangstür befand, nach dem Klassentreffen fragte, verwies der Wirt ihn auf den hinter der Gaststube liegenden Anbau. In dem freundlichen und hellen Raum der gleichfalls einen gepflegten Eindruck auf ihn machte, empfing ihn lautes Gelächter. Einer der ehemaligen Schüler gab gerade lautstark einen Jugendstreich zum Besten. Henning hielt Ausschau nach der dunkelhaarigen Dame, von der er annahm, dass sie Coras ehemalige Klassenlehrerin war. Er erspähte sie im hinteren Teil des Raumes, umringt von mehreren Schülern. Henning näherte sich ihr bis auf wenige Schritte und wartete. Er vertraute darauf, dass sie ihn irgendwann bemerken würde. Er musste sich auch nicht lange gedulden, bis sie auf ihn zukam.
„Wen haben wir denn da?“, begrüßte sie Henning vergnügt. „Um einer meiner Schüler zu sein, sind Sie eindeutig zu alt.“
Henning lächelte. „Ganz recht, dafür bin ich wirklich zu alt. Mein Name ist Lüders, Henning Lüders. Ich war bis vor kurzem Kriminalkommissar. Der Selbstmord von Cora Birkner war einer meiner letzten Fälle.“
Schlagartig wich alle Farbe aus dem Gesicht der alten Lehrerin. „Ich habe davon gehört“, stammelte sie, „mein Gott wie schrecklich, dabei war Cora immer ein so freundliches Mädchen, so zu enden, das hat sie wahrlich nicht verdient. Ach entschuldigen Sie“, fügte sie verlegen hinzu: „ich habe ganz vergessen mich vorzustellen. Mein Name ist Gisela Mann, ich bin die ehemalige Klassenlehrerin.“
Henning nickte: „Das dachte ich mir schon. Hätten Sie vielleicht fünf Minuten Zeit? Ich habe nur ein paar Fragen.“
„Aber natürlich, lassen Sie uns am besten nach draußen gehen. Bei dem Lärm hier drin versteht man ja kaum sein eigenes Wort.“ Henning vor sich herschiebend verließ sie den Raum. Als sie an der Theke vorbeikam hielt sie kurz an, um sich vom Wirt den Turmschlüssel geben zu lassen.
„Puh, an so eine Lautstärke muss man sich erst mal wieder gewöhnen!“, stöhnte sie, als sie sich in dem engen Vorraum, der zum Schlossturm führte, befanden. Mit dem Schlüssel klappernd schlug Gisela Mann vor: „Was halten Sie davon nach oben zu gehen? Dort können wir ungestört miteinander sprechen und dabei gleichzeitig die herrliche Aussicht genießen.“
Während der Kommissar ihr die Treppe hinauf folgte, wies er sie darauf hin, dass er seit einigen Wochen pensioniert sei. „Bevor Sie mit mir sprechen, wollte ich, dass Sie das wissen. Ich ermittle sozusagen auf eigene Faust. Sie müssen also nicht mit mir reden. Sollten Sie es dennoch tun, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn unser Gespräch unter vier Augen bliebe.“
Oben angekommen, winkte Gisela Mann resolut ab: „So ein Unsinn. Natürlich werde ich Ihre Fragen beantworten. Ich verstehe nur nicht, was es bei einem Selbstmord noch zu ermitteln gibt?“
Mit scheinbar unbeteiligter Miene ließ sie ihren Blick über die Kulisse der Stadt schweifen. Es sah aus als würde sie den Kirchturm, der sich nur wenige Meter rechts von ihr befand, betrachten. Doch Henning merkte, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ihre folgenden Worte bestätigten seine Annahme. Sich ihm zuwendend bemerkte Gisela Mann scharfsinnig: „Es sei denn, es war gar kein Selbstmord.“
Die Frau ist clever dachte Henning, vor der musst du dich in Acht nehmen. „Dazu möchte ich mich ehrlich gesagt nicht
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